Die Waffen nieder!
schon karg), Friedrich, Rudolf, der Hofmeister und ich, als der erste Schlag erdröhnte. Wir alle erhoben betroffen die Köpfe und wechselten Blicke. Sollte dies? ...
Aber nein – es war vielleicht ein zugefallenes Haustor oder sonst etwas. Nun war ja alles still. Wir nahmen das vorhin unterbrochene Gespräch wieder auf, ohne nur des Gedankens zu erwähnen, welchen jener Ton in uns erweckt hatte. Da – nach drei bis vier Minuten – kam er wieder. Friedrich sprang auf:
»Das ist die Beschießung,« sagte er und eilte ans Fenster.
Ich folgte ihm. Von der Straße drang ein Gemurmel herauf, Gruppen hatten sich gebildet: die Leute standen und horchten oder wechselten erregte Worte. Jetzt kam unser Kammerdiener in das Zimmer gestürzt – zugleich erklang eine neue Salve.
»Oh monsieur et madame – c'est le bombardement!«
Zu der offenen Tür herein drängten nunmehr sämtliche anderen Diener und Dienerinnen bis herab zum Küchenjungen. Bei solchen Katastrophen – Kriegs-, Feuer- oder Wassernot – da fallen alle gesellschaftlichen Schranken, da laufen alle Bedrohten zusammen. Viel mehr als vor dem Gesetze, mehr noch als vor dem Tode – der in seinen Bestattungszeremonien solche Standesunterschiede kennt – fühlen sich alle gleich vor der Gefahr . C'est le bombardement – c'est le bombardement ! Jeder, der zu uns in das Zimmer herbeigeeilt kam, stieß diesen selben Ruf aus.
Es war entsetzlich – und dennoch, ich erinnere mich genau meiner Empfindung: ein gewisses bewunderndes Erschauern, eine Art Genugtuung, etwas so Gewaltiges zu erleben, mitten drin zu sein in dieser schicksalsschweren Begebenheit und vor der eigenen Lebensgefahr dabei nicht zu erbeben. Die Pulse schlugen mir, ich fühlte etwas wie – wie soll ich's nennen? – Stolz des Mutes.
* * *
Das Ding war übrigens weniger schauervoll, als es im ersten Augenblick geschienen. Keine brennenden Gebäude, keine angstschreienden Menschenhaufen, keinen unaufhörlich die Luft durchschwirrenden Bombenhagel – sondern immer nur dieses dumpfe, ferne, von langen und längeren Zwischenräumen getrennte Rollen. Man fing nach einiger Zeit beinahe an, sich daran zu gewöhnen. Die Pariser wählten als Spaziergangsziel solche Punkte, von welchen aus man die Kanonenmusik besser hören konnte. Hier und da fiel ein Geschoß auf die Straße und platzte, aber wie selten kam einer dazu, zufällig in der Nähe zu sein. Zwar fielen manche tödliche Bomben herab, aber in der Millionenstadt hörte man von diesen Fällen nur so vereinzelt, wie man auch sonst gewohnt ist, unter den Lokalnachrichten seiner Zeitung verschiedene Unglücksfälle zu vernehmen, ohne daß es einem besonders nahe ginge: »Ein Maurer von einem vierstockhohen Gerüst gefallen« oder »eine anständig gekleidete Frauensperson sich über das Brückengeländer in den Fluß gestürzt« u. dgl. m. Der eigentliche Kummer, der eigentliche Schrecken der Bevölkerung, das war nicht das Bombardement: das waren der Hunger, die Kälte, die Not. Aber eine solche Nachricht von einem unheilbringenden Geschoß hat mich tief erschüttert. Dieselbe kam in Form einer schwarzumrandeten Traueranzeige ins Haus:
»Herr und Frau N. geben Nachricht von dem Tode ihrer zwei Kinder François (8 Jahre alt) und Amélie (4 Jahre), welche eine durch das Fenster fliegende Bombe erschlagen hat. Um stille Teilnahme wird gebeten.«
»Stille« Teilnahme! Ich stieß einen lauten Schrei aus, nachdem ich das Blatt überflogen. Ein Gedanke, ein mit Blitzesschnelle vor meinem inneren Auge erscheinendes Bild zeigte mir den ganzen Jammer, der in dieser schlichten Traueranzeige lag ... ich sah unsere beiden Kinder, Rudolf und Sylvia – nein, es war nicht auszudenken!
Die Nachrichten, die man erhält, sind spärlich; alle Postkommunikation natürlich unterbrochen: nur durch Brieftauben und Luftballons wird mit der Außenwelt verkehrt. Die Gerüchte, die allenthalben auftauchen, sind der widersprechendsten Art. Man meldet siegreiche Ausfälle, oder man verbreitet die Kunde, daß der Feind schon im Begriffe sei, Paris zu erstürmen, um es an allen Ecken anzuzünden und dem Erdboden gleich zu machen; oder man versichert, daß, ehe man einen Deutschen in die Mauern dringen ließe, die Kommandanten der Forts sich selber und ganz Paris in die Luft sprengen würden. Es wird erzählt, daß die sämtliche Bevölkerung des Landes, namentlich aus dem Süden ( »le midi se lève« ) über die Belagerer im Rücken herfällt, um ihnen den Rückzug
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