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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Tod lauert auf den Schneiden der Barry-O-Klingen, die aus alten Bierdosen gehämmert wurden, zusammengefaltet und gehämmert und wieder zusammengefaltet und wieder gehämmert. Die Leute des Barry-O bleiben in ihren Elendshütten und starren durch die Fenster; sie überlassen die Nacht und den Regen den Müllverkäufern und Messerstechern und den schillernden Figuren der Company. Deren Taschenlampenstrahlen bohren sich als Vorhut in das Elend, während sie spritzend durch die knöcheltiefen, reißenden Regenbäche waten, die den Hügel hinunter ins Barry-O stürzen. Und dort, aus dem Schattenland aufragend, ist der Ort, nach dem ihre Phantasie glühend verlangt.
    In den Tagen, als die Straßen noch Fahrzeuge kannten, war es ein mehrstöckiges Parkhaus; zweiundzwanzig Etagen vermietbaren Raums. Jetzt, mit Streifen und Flecken vom sauren Regen, ist seine frühere Identität überwuchert von einem Dschungel aus Stromkabeln und Röhren und Leitungen und selbstgebastelten Parabolantennen aus Maschendraht. Das Netz der Kabel läßt krampfartig dicke blaue Funken auf das Straßenpflaster hinunterzucken.
    Einen Moment lang zögern sie, diese Kinder des Lichts. Einen Moment lang spielen vielleicht einige mit dem Gedanken an Umkehr. Doch eins schritt voran durch die Kaskade des blauen Lichtbogens: das dunkle Mädchen, dasjenige, das sich Zed nennt, und die Energie, die es aus der Nacht und dem warmen Regen gewinnt, zieht die anderen hinterher; die Helle, die Schweigende, den Finsteren, den Lachenden. Die unteren Etagen sind bis zur Decke mit schwarzen Müllsäcken angefüllt. Ein Geflecht von Taschenlampenstrahlen enthüllt verstohlene Bewegungen von Schwarz auf Schwarz. Dinge, die die schwarzen Plastikschultern den sie streifenden Lichtstrahlen zuwenden.
    »Ich weiß nichts über dieses …« Die Atemmaske verfälscht seine Stimme, seine Identität; nur die Augen des Jungen, der sich Yoni nennt, sind zu sehen, und sie lachen jetzt nicht.
    Der endlose Regen hat kleine Kalkstalagtiten durch die Deckenverbindungen sickern lassen: die Scheinwerfer verwandeln die Wassertropfen an ihren Spitzen zu Perlen. Das dunkle Mädchen, dasjenige, das sich Zed nennt, streift sich die Atemmaske ab und schleudert sie weg. Sie rutscht klappernd über den von Tropfen fleckigen Beton. Sie atmet die Fäulnis und den Gestank und den Eiter ein.
    »Dann kehr um. Mach nur! Kehr um!« Sie geht zu dem Jungen und streicht ihm mit dem Handrücken übers Haar. »Geh nur! Es ist schon in Ordnung. Das ist keine Schande. Es ist einfach nichts für dich. Wir machen dir deswegen keinen Vorwurf.« Seine Finger fahren über ihre streichende, streichelnde Hand. Wut, Demütigung flammen in den Augen über der Maske auf. Zed lächelt.
    »Ich komme mit euch. Sieh mal …« Er nimmt sich die Atemmaske ab, wirft sie weg. Er füllt seine Lungen mit dem Abfallgestank des Barry-O.
    »Ich freue mich.«
    Und die Helle und die Schweigende und der Finstere werfen ihre Atemmasken weg und atmen den Gestank und die Verderbnis ein, und sie alle lächeln, alle Freunde alle Pilger alle Mitglieder der Company zusammen. Sie drängen weiter, und bei der Berührung des Scheins ihrer Taschenlampen fliehen und verschwinden die versammelten Schatten: Stockwerk um Stockwerk um Stockwerk voll schallender, tropfender Dunkelheit, erleuchtet von zuckenden blauen Blitzen; das Energienetz ist ruhelos. Erwartung. Zed bleibt stehen, mit erhobenen Händen, psst, seid still! Ihre Augen, ihre Nasenflügel sind weit geöffnet, sie schnuppert etwas, eine Ahnung, eine Erinnerung an Gardenien.
    »Aurelian?«
    Der Name jagt um die baufälligen viereckigen Betonpfosten.
    »Aurelian?«
    Sie hält einen kleinen Plastikzylinder hoch in die Luft. Sie schüttelt ihn, und die darin schwebenden Dinge fangen den blauen Lichtbogen ein. »Ich habe dir etwas mitgebracht, Aurelian! Eine Wohltat für dein brandiges Fleisch, alter humpeliger, schrumpeliger Mann, damit hat die Verwesung ein Ende. Gutes Zeug, Aurelian, Company-Qualität, hörst du mich, Aurelian?«
    Ein Seufzen in der Dunkelheit. Verstärkt durch die uralte Akustik des Parkhauses. Taschenlampenstrahlen wirbeln zu einem Lichtrand herum: nichts. Nur ein Seufzen.
    »Du bist auch nichts anderes. Na ja. Kühner als die meisten, vermute ich, aber nicht weniger dumm. Oder weniger eitel. Also gut, gib mir das Zeug!«
    Zeds Hand schließt sich schnappend wie Rattenkiefer um das blaue Plastikfläschchen mit dem synthetischen Todeshormon-Stopper. »Gib uns

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