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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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unter sich. Schattenkämpfer im ewigen Schatten der Industriezentren. Und dieses ist die Lehre, die sie predigen:
    Alles ist nichts.
    Nichts ist alles.
    Wenn du alles Gut der Oberstadt von Hy Brazyl besitzt, bist du immer noch ärmer als der ärmste Noncontractado drunten im Barry-O. Werde zum Nichts, dann wirst du alles empfangen. Nirwana. Nihilismus. Die seligmachende Auflösung. Nichts gewesen zu sein und dann wieder etwas zu werden. Die Reinigung, die eintritt, wenn die Schlacke des bloßen Menschseins weggebrannt wird durch jenen Augenblick des Nichts-und-Alles. Und die innere Kraft (man nenne es Mut, Glaube oder Einfalt) zu diesem einen Schritt, der einen durch den Teleporter bringt, in den Tod und wieder heraus. Es ist eine finstere und verzweifelte Lehre, die sie predigen, aber diese Herren der Neuen Kirche strahlen etwas aus, das die, die sie suchen, anzieht, eine Kraft, ein Magnetismus, ein Licht. Sie würden es Heiligkeit nennen, wenn sie wüßten, was dieses Wort bedeutet. Sie wissen nur, daß es eine Reinheit des Lebens ist, die in ihrem eigenen Leben fehlt.
    »Werde nichts, dann wirst du alles werden«, sagt diejenige, die sich Zed nennt. Sie blickt in die Augen ihrer Schüler, die sich lässig auf den weichen Sitzkissen der Gesprächsmulde ausgestreckt haben. In einigen sieht sie Zweifel. In einigen sieht sie Angst. In einigen sieht sie eine Leere, die einst auch in ihr gewesen war. In einigen sieht sie Hunger. In einigen die Flamme des Verlangens. »Heiligt euch selbst! Sterbt und lebt aufs neue!«
    Gott schütze uns vor jenen, die jede unserer Äußerungen als Lehre auffassen.
    Sie kam vor dem Morgengrauen, die Schweigende, Cassaday, diejenige der vier, die sich nach ihrer Neuerschaffung am wenigsten behaglich fühlte, und sie ruft und ruft und ruft von der Tür her.
    »Zed …«
    »Ruhe. Bitte.«
    Fünf Uhr zwanzig, und das Morgengrauen quillt über den Rand der Wolkenschicht. Ein Lichtkeil schiebt sich langsam an den gebogenen Fassaden der Corporadas hoch: rotes Licht, Morgendämmerlicht ergießt sich durch das Fenster, überspült das Mädchen, das an der Scheibe steht, fließt über den Lebensfellboden und die verstreuten Sitzkissen in die Gesprächsmulde. Er erwischt Cassaday, die Schweigende, in ihrer Ecke neben der Tür.
    »Zed …« Etwas hat sie aus ihrem Schweigen herausgetrieben, etwas Schreckliches und Beängstigendes.
    Eine Hand erhebt sich, der Befehl zu schweigen. Zeds Stirn ist gefurcht, intensive Konzentration, die Vortäuschung von Besinnung. Ausgestreckte Hände. Das Licht erfüllt die Welt wie der verrücktgewordene Dotter eines Eies, das in einen Becher aus Glimmerglas aufgeschlagen wurde. Der untere Saum der Sonne berührt den Wolkensockel.
    Fünf Uhr einundzwanzig.
    Dank der Company genießt Hy Brazyl so ziemlich die spektakulärsten Sonnenauf- und -untergänge auf dieser Seite des Jupiters. Atmosphärische Verunreinigung offenbar.
    »Ich denke immer, es ist falsch, den Sonnenaufgang für sich selbst zu behalten. Man sollte ihn mit einem Seelenbruder oder einer Seelenschwester teilen, meint ihr nicht? Kaffee?«
    »Zed?«
    Doch sie hastete zur Kanne und den Tassen und dem Ritual.
    »Cass, du bist eine meiner ältesten und liebsten Freundinnen. Ich habe das Gefühl, ich kann dir alles erzählen, was für mich wichtig ist. Ich habe das Gefühl, ich kann dir auch das erzählen. Ich habe Angst. Angst, daß ich es verliere. Verstehst du, was ich sage? Hier, in mir. Es ist einfach nicht mehr dasselbe. Ich habe das Gefühl, Schmutz ist in meinen Adern. Ich habe das Gefühl, Scheiße ist in meinem Mund. Ich habe das Gefühl, das Feuer in mir ist nur noch … Glut.«
    Zed hat ihren Wasserkessel mit kleinen Metallglocken ausgestattet. Wenn das Wasser kocht, dann singen und klingen und zirpen die Glöckchen.
    »Sie sind es. Die anderen. Es gibt zu viele von ihnen. Sie brauchen zuviel. Sie ersäufen mich, einfach weil sie um mich herum sind, sie ersäufen mich. Sie beschmutzen mich, verstehst du das?«
    »Zed, Jorge Garcia-Lorca ist tot.«
    »Man kann sagen, weil ich so rein bin, befleckt mich die flüchtigste Berührung mit jemandem, der nicht so rein ist. Schmutz hebt sich vor Weiß deutlicher ab als vor Schwarz. Ich habe das Gefühl, von Fingerabdrücken bedeckt zu sein. Und jedesmal kommen sie zu mir mit ihren törichten Anliegen: ›Lehre mich‹, ›Leite mich‹, ›Wie soll ich, wie kann ich, was meinst du dazu, Zed? Sag uns, was wir tun sollen, Zed!‹ – das Feuer in mir

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