Die wahre Lehre - nach Mickymaus
erlischt. Cassaday, ich kann mich nicht bewegen, meine Haut ist überkrustet. Würger und Obi haben das gleiche Gefühl. Wir verlieren es. Wir werden vom Staub geschluckt.«
»Hörst du mir zu? Hörst du mir zu?« Cassadays Stimme erhebt sich zu einem Schreien. Bevor sie Zed kennengelernt hat, bevor sie rein und heilig geworden ist, hat sie niemals geschrien. »Er ist von der Sonnenterrasse im vierhundertundelften Stock gesprungen. Hesus!« Kaffee fällt in einem kleinen, gezielten Bogen aus dem Schnabel der Kanne in Porzellanschalen. »Er gehörte zu meiner Gruppe, er war erst seit kurzem zu den Zusammenkünften gekommen. Er hatte Schwierigkeiten mit seinen Eltern, mit seiner Freundin, mit seinem Lehrer; es paßte ihnen nicht, daß er sich der Gruppe anschloß – sie sprachen von Gehirnwäsche. Ich habe versucht, ihm zu helfen, mit sich ins reine zu kommen. Letzte Nacht hat er angerufen, übers öffentliche Kommunikationsnetz, gegen zwei. Er hatte großen Zoff mit seinen Leuten. Dauernd sagte er was davon, daß alles kaputt sei, alles türmte sich rings um ihn auf, höher und höher und höher, und er könne überhaupt nicht mehr darüber hinaussehen. Herrje, Zed, es war zwei Uhr morgens, und ich war ziemlich weggetreten, also gab ich ihm ein paar der üblichen Ratschläge, den Wird-schon-gut-werden-Quatsch: ›versuch in solchen Situationen zum Nichts zu werden, werde nichts, und alles wird einfach durch dich hindurchgehen, und wenn es vorüber ist, wirst du siegreich und neugeboren aus der Situation hervorgehen.‹ Dieses Zeug. Und dann. O Gott. O mein Gott.« Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Zed beobachtete mit leidenschaftsloser Neugier, wie sie weint, so wie sie ein geologisches Anschauungsstück betrachten würde. Sie nippt an ihrem Kaffee und schaut zu. »Dann habe ich gehört, daß er gesprungen ist. Aus dem vierhundertundelften Stock. Einer seiner Freunde hat es mir erzählt. Er hat noch versucht, es ihm auszureden, aber er sagte immer wieder und wieder und wieder: ›Dies ist der Ausweg für mich, ich sterbe und werde zum Nichts und erstehe neu als alles.‹ Und es ist meine Schuld, ich bin verantwortlich. Ich bin genauso verantwortlich für seinen Tod, als wenn ich ihn eigenhändig von der Sonnenterrasse gestoßen hätte. Ich habe ihn umgebracht. Ich bin schuldig. Und ich weiß nicht, ob ich damit fertig werden kann. Ich weiß es wirklich nicht.« Durch die Morgendämmerungsfenster sieht sie Jorge Garcia-Lorca, der wie ein menschlicher Stern auf den mondsilbernen Wolkensockel zufliegt, um an den harten Kanten der Industrieebenen darunter zum Nichts zerschmettert zu werden. »Ich weiß nicht. Ich habe so das Gefühl, daß es das beste wäre, wenn ich ihm folgte. Verstehst du?« Sie schnieft. Schwarze Wimperntusche hat Streifen auf ihren Wangen hinterlassen, die Spuren ihrer Tränen.
Zed blickt von ihrem Kaffee auf, lächelt plötzlich.
»Aber begreifst du nicht? Genau das ist das Problem! Du fühlst dich schuldig, weil du dich von den Wertvorstellungen anderer Menschen, unreiner Menschen, hast beflecken lassen. Es ist nicht dein Fehler. Wie könnte es auch dein Fehler sein? Du meinst nur, daß es dein Fehler ist, weil deine Heiligkeit, deine Reinheit, von anderen Menschen überschattet worden ist. Was wir jetzt brauchen, ist eine Wiederweihung. Eine Wiederreinigung: eine Erneuerung des Schrittes durch den Spiegel der Unendlichkeit, um dich von all dem Schmutz und der Dunkelheit säubern zu lassen. Ich habe mit den anderen Verbindung aufgenommen, sie alle sind derselben Ansicht, sie stimmen alle darin überein, daß das der einzige Weg ist, um unser gemeinsames Licht wieder leuchten zu lassen. Wieder hinunter ins Barry-O. Noch einmal der Gang durchs Feuer. Wiedergeboren und noch mal wiedergeboren.«
»Meinst du das ernst? Meinst du das wirklich ernst? Ein Junge ist tot, und dir fällt nichts anderes ein, als von deiner wertvollen Reinheit und Heiligkeit zu reden?«
»Natürlich meine ich es ernst. Das Geschehene ist natürlich ziemlich tragisch, doch das ist um so mehr ein Grund für uns, nach Reinigung zu streben, damit so etwas nie wieder vorkommt. Kommst du jetzt?«
»Nein! Nein!« Sie steht auf. Sie ist nicht mehr die Schweigende. »Nein, ich komme nicht. Ich habe die Nase voll. Ich will nichts mehr damit zu tun haben, nicht mit euch, mit keinem von euch, mit dem Ganzen. Ruft mich nicht an, kommt mich nicht besuchen, laßt mich in Ruhe. Ich will keinen von euch jemals wiedersehen.
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