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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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war.
     
    Jim ließ die Tür offen, und sie eilte hinter ihm her, hielt aber oben auf der Treppe inne, zu erschrocken, um hinunterzugehen, voller Angst, der Salon könnte schon unter Wasser stehen. Ich muß mich beeilen. Ich muß Caroline retten, dachte sie, bevor alle Boote fort sind, und sie ging die sich neigende Treppe hinunter.
    Sie saßen an dem Tisch im Salon. »Komm zu uns, Amy«, sagte Ismay. »Wir rufen dich. Kannst du uns hören?«
    »Ich höre dich«, sagte Amy deutlich. »Du hast mich umgebracht.«
    Ismay sah sie nicht an. Er betrachtete den geschnitzten Stuhl, und es saß jemand darin. »Ich bin glücklich hier«, erwiderte Amys Geist. Debra, zurechtgemacht mit Fettschminke, die Hände entspannt auf den geschnitzten Lehnen. »Ich wünschte, du wärst hier bei mir, Caroline, mein Liebling.«
    »Nein!« schrie Amy und versuchte über den Tisch auf ihr eigenes Abbild zuzugehen, aber der Fußboden bebte, so daß sie kaum stehen konnte. »Hör nicht auf sie«, schluchzte Amy. »Lauf weg! Lauf!«
    Ismay wandte sich Caroline zu. »Würdest du gern deine Mutter sehen, Schatz?« fragte er, und Amy warf sich auf ihn, trommelte gegen seine Brust. »Mörder! Mörder!«
    »Wir werden sie jetzt besuchen«, sagte er und entfernte sich vom Tisch, Carolines Hand in seiner.
    »Nei-ein!« keuchte Amy in einem Anfall von Verzweiflung und versetzte ihm einen Schlag von solcher Wucht, daß er hätte auf den Tisch stürzen und die Kerzen zu Teichen aus Wachs umkippen müssen. Die Kerzen brannten unbeschadet in der ruhigen Luft.
    »Hilfe, Polizei! Mörder!« schrie sie und mühte sich mit den Fensterriegeln, die sich nicht öffnen ließen, hämmerte mit den Fäusten gegen die Scheiben, die sich nicht einschlagen ließen. Sie konnten sie nicht hören. Sie konnten sie nicht sehen. Nicht einmal Ismay. Sie ließ ihre Hände an ihre Seiten sinken, als seien sie verletzt worden.
    »Die Schiffsbauer wußten es sofort«, sagte Ismay, »aber dem Kapitän mußte man es erklären und selbst dann glaubte er es nicht.«
    Sie wandte sich vom Fenster ab. Er sah sie nicht an, aber mit den Worten war sie gemeint. »Sie können mich sehen«, behauptete sie.
    »O ja, ich kann Sie sehen«, erwiderte er und trat von der Bahre zurück. Sie hatten das Blut abgewaschen. Sie hatten ein Laken bis zu ihrer Brust hinaufgezogen und ihre Hände darüber verschränkt, um die Wunde zu verbergen. Natürlich konnten sie sie nicht sehen, während sie durch die Flure streifte und ihre Stimmen übertönte, um gehört zu werden. Natürlich konnten sie sie nicht hören. Sie war hier, war die ganze Zeit hier gewesen, die nutzlosen Hände über ihrer bewegungslosen Brust verschränkt. Natürlich konnte sie die Tür nicht öffnen.
    Ich kann Caroline nicht retten, dachte sie und suchte sie unter den Frauen, aber sie waren alle fort. Sie haben sie doch noch in die Boote gebracht.
    Ismay stand am Seance-Tisch und beobachtete sie. »Wir sind auf einen Eisberg gelaufen«, sagte er mit einem leichten Lächeln.
    »Mörder«, rief Amy.
    »Ich kann Sie nicht hören, wissen Sie. Was Sie sagen, kann ich manchmal erkennen, indem ich Sie beobachte. Das Wort ›Mörder‹ kommt ganz deutlich bei mir an. Aber meine Liebe, Sie geben überhaupt keinen Laut von sich.«

    Sie blickte auf ihren Körper hinunter, in ihr ruhiges Gesicht, das nie mehr einen einzigen Laut von sich geben würde.
    »Die Toten geben einen Laut von sich«, sagte Ismay. »Wie ein untergehendes Schiff. S.O.S. S.O.S.«
    Amy blickte auf.
    »Oh, meine Liebe, ich sehe, daß Sie jetzt noch hoffen. Ist die menschliche Seele nicht ein störrisches Ding? S.O.S. Save our Ship. Stellen Sie sich vor, Sie geben eine solche Botschaft durch, wenn das Schiff nicht mehr gerettet werden kann. Die Titanic war in dem Moment tot, als sie den Eisberg rammte, so wie Sie in dem Moment tot waren, nachdem ich Sie bei ihrem Gebet entdeckte. Aber es dauert einige Zeit, um unterzugehen. Und bis zuletzt bleibt der Bordfunker an seinem Posten und sendet Botschaften, die niemand hören wird.«
    Es gab etwas, das er in seinen Worten verbarg, etwas über Caroline.
    »Es ist offensichtlich ein wirklicher Laut, wenn die sterbenden Zellen ihre gespeicherte Energie freisetzen, obwohl ich vorziehe, es so zu betrachten, daß die sterbenden Zellen ihre letzte Hoffnung aufgeben. Er bewegt sich tief im Infraschallbereich, deshalb ist sein Nutzen begrenzt. Die reizende Debra und ein paar verborgene Lautsprecher sind auf lange Sicht viel brauchbarer. Aber

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