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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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hatte.
    Benommen vor Erschöpfung verließ er das Labor und ging den stillen Korridor des Mathematiktrakts entlang und hinaus in die Kälte.
    Plötzlich blieb er stehen. Ein kahler Baum unterbrach das Licht einer Straßenlaterne an der Ecke; kein Mensch war zu sehen. Er hörte Schritte und drehte sich um; ein Wachmann kam auf ihn zu.
    »Wie lang steht dieser Baum schon dort?«
    »Welchen Baum meinen Sie?«
    »Den dort.«
    Der Wachmann blickte zu dem Baum, dann zu Judson und wieder zu dem Baum. »Länger als es uns beide gibt, würde ich sagen.«
    »Wahrscheinlich ist er mir noch nie aufgefallen«, murmelte Judson.
    »So wird’s sein. Wenn er die Blätter verliert, sieht er ganz anders aus, nicht?«
    Judson wollte gerade zu der Frage ansetzen, welcher Monat sei, doch er schluckte die Worte hinunter und sagte statt dessen gute Nacht; dann bemühte er sich, den Weg zu seinem Wagen nicht im Laufschritt zurückzulegen. Als er eingestiegen war, sah er auf die Uhr: Zwei Uhr dreißig. Kein Wunder daß der Campus leer war. Er fuhr nach Hause und betrachtete alles, als hätte er es noch nie zuvor gesehen: die kurvige Straße durch den Campus, die Kreuzung, auf der es jetzt keinerlei Verkehr gab, die Vierundzwanzig-Stunden-Hamburger-Bude ohne eine Menschenseele. Er fuhr, ohne über seine Strecke nachzudenken, ohne auf Abbiegungen zu achten, ohne sich zu überlegen, welches Haus das seine war. Er hatte das Gefühl, sehr lange weggewesen zu sein.
    Nachdem er die Haustür aufgeschlossen hatte, hörte er den Fernsehapparat und folgte dem Klang durch die Küche ins Wohnzimmer, wo Millie, eingehüllt in eine Wolldecke, auf der Couch saß.
    »Ich bin zu Hause«, sagte er und sah sie an. Sie war hübscher als in seiner Erinnerung. Der Ton ihrer Haare wandelte sich von Gold zu einem hellen Braun, das ihr besser stand, und er hatte ihre Augen nicht so blau in Erinnerung gehabt, außerdem waren sie größer und, zumindest in diesem Moment, betrübter.
    »Ich auch«, sagte sie und wandte sich wieder dem Fernsehgerät zu.
    »Wie geht’s?«
    »Bestens.«
    »Bist du böse auf mich?«
    »Natürlich nicht. Letzte Woche habe ich dir verkündet, daß ich dich wegen eines anderen Mannes verlassen werde, und weißt du noch, was du gesagt hast? ›Gut, mein Schatz. Tu alles, was du magst, Hauptsache, es macht dir Spaß.‹ Und seither hast du nicht mehr mit mir gesprochen. Du hast nicht nach unserer Tochter gefragt, nicht nach dem Stand unseres Prozesses, nicht nach der Hypothekenzahlung und nicht nach der undichten Stelle im Bad.«
    »Du lieber Gott! Was für eine Tochter?«
    Sie seufzte und stand auf. »Hast du während der letzten Tage überhaupt etwas gegessen? Hast du geschlafen?«
    »Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Millie, du nimmst mich auf den Arm, nicht wahr?«
    »Na klar, ich nehme dich auf den Arm. Rühreier? Steht deine neue Theorie? Bin ich deshalb wieder sichtbar für dich?«
    »Millie, es ist … Ich muß den Präsidenten oder irgend jemanden anrufen.«
    »Wie Chicken Little, was?«
    »Aber der Himmel fällt uns tatsächlich auf den Kopf!«
    »Mit oder ohne Käse und Zwiebeln?«
    Er folgte ihr in die Küche; sie nahm seine Hand und führte ihn zu einem Hocker am Eßplatz. Sie mußte ihn sanft hinunterdrücken, damit er sich setzte. Als sie ein Glas Milch vor ihn hinstellte, probierte er es, als ob er etwas Ähnliches in seinem Leben noch nicht gesehen hätte.
    »Die Zeit verlangsamt sich, Millie.«
    Sie schlug ein Ei auf und ließ es in eine Schüssel gleiten.
    »Ich wollte es am Anfang nicht glauben. Ich habe alles sogar dutzendemale nachgeprüft. Sie verlangsamt sich.«
    Sie schlug ein zweites Ei auf. »So etwas wie die Zeit gibt es nicht.« Sie schlug das dritte Ei auf. »Hast du deine Jacke im College gelassen?«
    Er sah an sich hinab. Deswegen hatte er so gefroren! »Sie verlangsamt sich mit zunehmender Geschwindigkeit, und wir können nichts dagegen tun.«
    Sie rührte sachte die Eier um. »Die Zeit ist ein abstrakter Begriff, den wir eingeführt haben, um über Veränderung und Dauer sprechen zu können.« Sie fügte Käse und Zwiebeln zu den Eiern, ließ Butter in einer Pfanne schmelzen, wartete, bis sie anfing zu brutzeln, dann gab sie die Eiermischung hinein. »Zeit«, fuhr sie fort, »existiert nicht als unabhängige Größe. Eine Veränderung kann schneller oder langsamer vor sich gehen, doch die Zeit an sich kann ihren Lauf nicht beschleunigen oder verzögern.«
    »Und wenn sie sich in ausreichendem Maße

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