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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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verlangsamt hat«, sagte Judson unbeirrt, »dann wird sie schließlich vollkommen stehenbleiben.«
    Sie steckte Weißbrotscheiben in den Toaster und holte die Marmelade. »Wir haben den Begriff Zeit erfunden, um über Jahreszeiten, über einen physikalischen Wandel, das Altwerden und das Sterben sprechen zu können.« Die Eier waren im gleichen Moment fertig, als die Toastscheiben hochhüpften. Es verblüffte ihn immer wieder, wie genau sie abschätzen konnte, wann die Sachen fertig waren. Sie warf beim Kochen niemals auch nur einen einzigen Blick zur Uhr. Instinkt, dachte er mit einem Anflug von Unbehagen; das hatte nichts mit der realen Zeit zu tun.
    Sie stellte das Essen vor ihn hin. »Wenn nichts geschieht, gibt es auch nicht so etwas wie Zeit. Zeit ist nicht wahrnehmbar, wenn keine Veränderung stattfindet, wenn sich nichts weiterentwickelt. Sie existiert lediglich als sprachliche Größe. Wie ›Zeit ist Sein‹. Was ist das Sein? Auch so eine sprachliche Größe.«
    »Mit Hilfe des Großrechners kann ich genau voraussagen, wenn sie zum Stillstand kommt«, sagte er und begann zu essen.
    »Liebling, sag mir nur eins. Hast du die Quadratwurzel aus minus eins gezogen, um zu deinem Ergebnis zu kommen?«
    Er nickte, da er den Mund zu voll hatte, um zu sprechen.
    Sie lächelte, brach sich ein Stück von seinem Toast ab und knabberte daran herum.
    »Du hättest nicht aufbleiben und auf mich warten sollen«, sagte er steif, sobald er dazu in der Lage war.
    »Ich wollte aber. Ich wußte ja, daß du irgendwann nach Hause kommen würdest, hungrig, müde, frierend. Außerdem kann ich morgen früh ausschlafen. Samstag, weißt du. Kein Unterricht.« Sie war Lehrerin für englische Literatur des Mittelalters.
    »Natürlich weiß ich das.«
    Welcher Samstag? fragte er sich. Er blickte auf den Kalender hinter sich und sah, daß der Monat Oktober aufgeschlagen war.
    »Der achtundzwanzigste«, sagte sie freundlich. »Dieses Wochenende wird die Zeit umgestellt. Müssen wir die Uhren dann vor- oder zurückstellen? Ich vergesse das immer wieder.«
    »Du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen«, sagte er noch steifer.
    Sie legte die Arme um ihn und küßte ihn auf die Wange. »Ich liebe dich«, sagte sie.
     
    Eisige Regenfälle setzten ein, dann folgten Schnee und noch mehr Eis und schließlich wieder wärmerer Regen, der alles zum Schmelzen brachte. Die Bäume waren in einen blaßgrünen Schleier gehüllt, der sich langsam in ein dichtes Laubdach verwandelte, durch das das Licht nacheinander grün und golden und rot gefiltert wurde. Und schließlich blieben nur noch kahle Zweige übrig, die die fahle Beleuchtung der Straßenlaternen unterbrachen.
     
    »Du wirst dich langweilen«, sagte Judson, während er neben Millie im großen Hörsaal des Konferenzzentrums Platz nahm. »Selbst ich finde Dukweiler langweilig.«
    »Ich wollte mir diesen Vortrag um keinen Preis entgehen lassen.«
    »Hast du mir wirklich zugehört, als ich meine Arbeit dort oben vorgestellt habe?«
    »Du weißt doch, daß ich zugehört habe. Du hast über Ypsilon und Alpha und Omega gesprochen, und das Symbol für unendlich war da und dort auf der Tafel verstreut, und dann hast du das Ganze mit der Quadratwurzel aus minus eins multipliziert, und das Publikum klatschte Beifall. Du warst einfach großartig.«
    »Es hat schon einige positive Resonanz gegeben. Man überprüft meine Zahlen noch einmal mit allen möglichen Mitteln, vom Rechenschieber bis zum Großcomputer.«
    »Ich habe dir doch schon gesagt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Natürlich schenkt man dir Beachtung.«
    Dukweiler wurde vorgestellt, und er begann, seine Theorie darzulegen. Während er sprach, schrieb er Zahlen und Zeichen an die Tafel. Er war kein begnadeter Redner und offensichtlich zu nervös, um seine Zuhörer auch nur anzusehen. Er spulte seinen Vortrag viel zu schnell ab, so daß Judson ihm nicht gleichzeitig folgen und die Zahlen überprüfen konnte.
    Judson spürte ein Frösteln im Magen, und er beugte sich eifrig nach vorn. Als Dukweiler geendigt hatte, wandte sich Judson an Millie. »Hast du das gehört? Hast du begriffen, was dieser Idiot behauptet?«
    »Es hörte sich sehr ähnlich wie dein Vortrag an, mit all den Ypsilons und Alphas und Omegas, und dann multiplizierte er das Ganze …«
    »Ich weiß, was er gemacht hat!«
    »Meint er, daß sich die Zeit beschleunigt?«
    »Ich kann seine Ergebnisse widerlegen!«
    Sie nahm ihr Strickzeug auf. »Ich glaube, die Leute

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