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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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hielt sich für neoviktorianisch und war einer schier erstickend vornehmtuerischen Prüderie fähig.
    Schließlich erregte ein Satz, der an Unanständigkeit grenzte, seine abschweifende Aufmerksamkeit. »Was meinst du damit, arm? Was für arme Kinder? Wo – wie könnte Ellaline arme Kinder kennenlernen?«
    Marianne war den Tränen nahe. »Sie gehen in die Unterstadt – manchmal in ganzen Gruppen – entziehen sich ihren Tutoren – laufen einfach drauflos – sie verkehren mit den … den Armen. Ich glaube sie hört …« – ihre Stimme senkte sich – »… abscheuliche Worte.«
    Er hatte keine Zeit für die hochgestochene neoviktorianische Art. »Eine Phase, meine Liebe, eine Phase. Sie wird dem entwachsen.«
    »Das mag schon sein, aber die Leute könnten es herausfinden. Diese gesellschaftliche Schande!«
    »Machst du dir Sorgen um Ellaline oder um dein gesellschaftliches Ansehen?«
    Überrascht dachte sie darüber nach. »Beides. Es muß eine Grenze geben. Arme Menschen sind genauso schlimm wie Befreite Freizügigkeit. Die Kinder sollten nichts von ihnen erfahren.«
    Brutal sagte er: »Früher oder später müssen sie es. Dein Leben hat dieses Wissen ja auch nicht zerstört.«
    Marianne war beleidigt. »Ich war eine erwachsene Frau, imstande, sozialen Schock zu ertragen.« Sie verbrachte ein oder zwei Sekunden damit, ihre innere Stärke zu bewundern, bevor sie wieder in die Rolle der anhänglichen Tochter verfiel. »Kannst du mir nicht einen Rat geben, Vati?«
    Er schenkte dem Befreiten Regnum wenig Beachtung, das schließlich von seinem eigenen etwa sechzig Jahre trennten. Er griff nach einem vertrauten Strohhalm. »Warum sprichst du nicht mit deiner Urgroßmutter, sie ist der kluge Kopf der … äh … Seniorenabteilung.«
    Mariannes Ohren wurden feuerrot. Über jemanden zu sprechen, von dem einen drei Regna trennten, war taktlos, selbst vom eigenen Vater. Über eine so tiefe Kluft hinweg konnte es nur wenig Kommunikation geben.
    Und die Anzeichen des … des Alterns würden so offensichtlich sein.
    Sie konnte es nicht tun. Welch bizarren sozialen Sitten mochte sie in diesem verwelkten Regnum begegnen? Und der lüsternen Gerüchteküche zufolge hatten sie keinen Sinn für Zartgefühl.
    Mit ungewohnter Ruppigkeit bemerkte ihr Vater, daß die … äh … Seniorin mehr Lebenserfahrung hätte als alle ihre Nachkommen zusammen, und daß Marianne als besorgte Mutter sich zusammenreißen und um ihrer Tochter willen einer Unannehmlichkeit ins Auge sehen sollte.
    Die besorgte Mutter, die über die ganze Palette billiger, dramatischer Instinkte, bezogen aus Hypnobüchern und Holospielen, verfügte, erkannte die herausfordernde Wahrheit dieser Bemerkung und begegnete ihr mit grimmiger Entschlossenheit. Mochte ihr Regnum den Kopf schütteln und flüstern, sie jedoch, die unerschrockene Mutter etc …
    Abgesehen davon – wenn sie es richtig anstellte, würden sie es vielleicht niemals herausfinden.
     
    Ellaline war dreizehn, übergewichtig, unerfreulich phantasievoll und ein erstklassiges Beispiel für das gereizt verzogene Gesicht, das unter den jungen Befreiten als unerläßlich galt. Die meisten ihrer Altersgruppe waren der Meinung, Befreiung bestünde daraus, den Eltern gegenüber unverschämt und ungehorsam zu sein, und sie gaben sich größte Mühe, aber sogar die Fortgeschrittenen Befreiten hielten Ellaline für ziemlich daneben. Sie hatte begonnen über Dinge zu sprechen, die weniger befreit als vielmehr ausgesprochen unangenehm waren. Sie ging entschieden zu weit.
    Ellaline und ihre Freundin (genaugenommen die Tochter der Konditorin ihrer Mutter – eigentlich gehobene Dienerschaft, privilegiert, solange sie sich keine Gleichheit anmaßte) saßen im Park am Rande der Unterstadt im Gras, wo die verwegeneren der armen Kinder manchmal hinkamen. Es war ihr nicht erlaubt, dorthin zu gehen, aber das gehörte zum befreiten Spaß dazu, so wie auch die mit Mißbilligung betrachteten, aber rasend teuren Jeans und Strandschuhe, die die Händler nach Mustern aus dem Historischen Archiv anfertigten. (Marianne verabscheute sie, aber was konnte man schon machen? Das war eben das Diktat der Mode, und sie konnte nicht zulassen, daß ihr Kind von ihren Altersgenossen ausgelacht wurde.)
    Jennie hatte für sie ein armes Kind ausfindig gemacht, mit dem sie in befreiter Manier verkehren konnte, einen entfernten Verwandten, über den in der Gesindestube gewöhnlich nicht gesprochen wurde.
    Als Dienstbotin war Freundin Jennie nicht

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