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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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gezwungen, der Mode zu folgen, die sich ihre Eltern ohnehin nicht hätten leisten können, und wenn auch ihr Baumwolloverall besser geschnitten war als der zerrissene Einteiler, der das arme Kind bedeckte, so unterschied er sich ansonsten doch nicht sehr davon.
    Das arme Kind Jimmy Johnston, vierzehn Jahre alt, beäugte Ellalines Jeans mit einem vermeintlich lüsternen Grinsen und teilte ihr in seinem entsetzlichen Gossengewinsel mit, daß sein Bandenname ›der flotte Harry‹ sei. »Weil ich’n Prachtexemplar habe«, erklärte er und wartete auf das übliche: »Zeig ihn her!«
    Sie war nicht interessiert.
    »Wülsten nich sehen?« Sie schüttelte den Kopf. Er war beleidigt. »Warum nich?«
    Sie zuckte die Achseln; Männlichkeit interessierte sie nicht. Sie wußte nicht, ebensowenig wie Jennie und Jimmy, daß die gerade begonnenen einleitenden Behandlungen das Erwachen ihrer Sexualität um mehrere Jahre hinauszögern würden. Ihre momentane Neugier richtete sich jedenfalls auf eine ganz andere menschliche Eigenschaft.
    In autoritärem Tonfall sagte sie: »Ich bin ein Produkt des Befreiten Regnums. Ich will schmutzig reden.«
    »So wie Scheiße oder Pisse? Jeder redet schmutzig.«
    Ellaline schüttelte heftig ihren blonden Kopf. »Das ist bloß ganz normal schmutzig. Ich meine wie tot und sterben.«
    Jennie legte eine Hand an die Lippen und kicherte nervös. Daheim losgelassen hätten diese Worte den Putz von den Wänden gefegt. Ellaline hätte das niemals gewagt, weil ihre Mutter einen Migräneanfall bekommen hätte oder zumindest in Schwermut verfallen wäre; ihr Vater, der selbst zuweilen ganz schöne Kraftausdrücke verwendete, hätte seine Tochter für eine solche Geschmacklosigkeit verprügelt. So etwas tat man einfach nicht! Selbst in der Gesindestube, wo sich niemand die Behandlungen leisten konnte, galt es als schlechter Ton, auch nur das umschreibende ›verscheiden‹, ›von uns gehen‹ oder ›endgültiger Zustand‹ zu gebrauchen.
    Jimmy Johnston war verwirrt. »Was is’n schmutzig am Sterben? Jeder stirbt.« (Keine Schulung, keine Erziehung, kein Feingefühl.)
    Ellaline verbesserte ihn, sanft – schließlich mußte man Rücksicht nehmen auf jemanden, dem das Schicksal weniger gnädig gesonnen war als einem selbst. »In meiner sozialen Klasse nicht.«
    Er betrachtete sie wie eine Mißgeburt. »Dann stimmt das mit den Jektionen, ja?«
    »Ich glaube, du meinst die Behandlung. Natürlich stimmt es. Wußtest du das nicht?«
    Jennie mischte sich wichtigtuerisch ein. »Den Gossenkindern wird nicht alles erzählt. Es ist nicht gut für sie.«
    »Du halt deine verdammte Klappe«, sagte Jimmy zu ihr. »Du bist kein Klassekind wie Ellaline. Wir wissen ’ne Menge.« Er wandte sich wieder Ellaline zu. »Würdest du hundert Jahre lang leben?«
    »Für immer.«
    »Quatsch!«
    »Doch! Für immer!«
    »Mein Alter sagt, das tut ihr nicht. Er sagt ihr verlängert es, aber am Ende kratzt ihr ab.«
    »Das stimmt einfach nicht! Es gibt kein Ende.«
    »Ihr sterbt!«
    »Nun, was ist das? Was ist sterben?«
    Jimmy starrte sie an und traute seinen Ohren nicht. Jennie murmelte: »Wie verscheiden.«
    »Du sei still, Jennie! Ich will, daß er es mir erzählt.«
    »Jeder stirbt«, sagte der Junge.
    »Das sagst du, aber was ist es?«
    »Man wird alt und stirbt.«
    Alt? Das war wirklich schmutzig, richtig schmutzige Gossensprache, aber … »Das erklärt es mir nicht. Was geschieht, wenn man stirbt?«
    Jimmy war dem Tod noch nie begegnet, aber er hatte seine Vorstellungen davon. »Man wird ganz runzlig überall und das Haar fällt einem aus.« Er erinnerte sich an seine verdammte Nervensäge von einem Großvater. »Man pinkelt sich voll und stinkt und wird bekloppt und fällt tot um. Nicht mehr lebendig.« Das reiche Mädchen war offensichtlich entsetzt, und er frohlockte über sein überlegenes Wissen. Geschah ihr recht, wo sie ihn doch nicht sehen wollte. »Jeder fällt tot um. Dann verfault man und sie verbrennen einen im Leichenhaus.«
    Ellaline kreischte ihn an: »Du dreckiger Lügner! Wir bleiben wunderschön und leben für immer. Du bist abscheulich!«
    Er haute ihr umgehend eine runter, aber sie war für ihr Alter recht stabil und schlug ihn so fest zurück, daß er sich vor lauter Überraschung auf den Hosenboden setzte.
    »Du bist ekelhaft!« Wütend stürmte sie aus dem Park und zog die vor Schreck erstarrte Jennie hinter sich her.
    Jimmy, der mit Mut nicht gerade gesegnet war und eine eingefleischte Ehrfurcht vor der

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