Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
Vom Netzwerk:
besseren Gesellschaft hatte, brüllte ihr nach: »Du warst doch diejenige, die schmutzig reden wollte!«
    Während er sich noch fragte, was daran nun eigentlich schmutzig war, zerrte er seine knapp einsachtzig große Gestalt auf die Füße und setzte dabei einen kampflustigen Gesichtsausdruck auf, für den Fall, daß irgendein anderes Gossenkind seiner Altersgruppe den Vorfall beobachtet haben sollte.
     
    Marianne hatte ihre Urgroßmutter noch nie gesehen. Das tat man einfach nicht. Der Name der Frau war Agnes, und sie gehörte dem Regnum der Intellektuellen Frauen an. Marianne stellte es sich unmöglich vor, in diese Periode hineingeboren worden zu sein. Wie kamen normale Frauen, die sich gerne amüsierten, nur mit einer solchen Zeit zurecht? Kein Wunder, daß der Trend sich gegen sie gewandt und in das Hausmütterchen-Regnum umgeschlagen war, obgleich auch das schwer zu ertragen gewesen sein mußte, mit überheblichen Männern, die sich so benahmen, als hätten sie alles in der Hand – nicht so friedlich und großzügig wie das würdevolle Neo-Viktorianische.
    Sie hätte den ganzen Plan vielleicht fallen lassen, wäre nicht in den drei Tagen, in denen sie hin und her schwankte, Nachricht von der Szene im Park am Rande der Unterstadt aus der Gesindestube nach oben gesickert (durch ihre selbstgefällig empörte Zofe). Das machte es unmöglich, nicht zu handeln. Ein Wort wie ›Tod‹ im Mund einer Dreizehnjährigen war unerträglich.
    Beim Anblick von Agnes’ Haus – viereckig, nüchtern, jede Menge Beton, nur ein kleines, leicht in Ordnung zu haltendes Grundstück – verspürte sie ein seelisches Frösteln. Es stank geradezu nach Intellekt. Würde die Frau einfache, direkte Sprache verstehen?
    Der Anblick von Agnes selbst brachte Marianne endgültig aus der Fassung. Ihre Urgroßmutter war – daran gab es keinen Zweifel – mittleren Alters. Marianne war sich nie ganz sicher gewesen, was das Wort bedeutete, erkannte nun jedoch, was es bedeuten mußte: grotesken Verfall. Falten im Gesicht. Graues Haar an den Schläfen. Flecken und beginnende Runzeln auf den Händen. Eine nicht mehr ganz aufrechte Haltung. War dies auch ihre Zukunft? Jedermanns Zukunft? Sie schlug sich diesen Gedanken als morbid aus dem Kopf; Agnes hatte sich lediglich gehenlassen.
    »Du bist Mary Ann? Ich habe deine Nachricht erhalten.«
    »Marianne.«
    »Schon gut – Marianne, wenn das eine Rolle spielt. Steh nicht herum, Frau, komm rein! Ich bin keine gottverdammte Gorgone.«
    Mit dem Gedanken. O doch, das bist du, folgte Marianne ihr in das funktionell viereckige Wohnzimmer mit seinen stabilen, funktionellen Möbeln und den mattgetönten Wänden. Kein Multiphasenfurnier für stimmungsabhängiges Dekor, keine Beleuchtungskonsole, kein Flex-Moment-Fluß im Design des Teppichs. Alles für immer gleich. Intellektuelle Frauen! Erkannten sie nicht ihre eigene Schäbigkeit?
    Und die Bilder! Zweifellos Originale des zwanzigsten Jahrhunderts und ungeheuer wertvoll, aber – der eckige Mann mit beiden Augen auf der einen Seite seiner Nase! Und das riesige Ding in drei verschiedenen Schattierungen von Weiß mit einem vereinzelten, haßerfüllten roten Auge, das aus der oberen linken Ecke anklagend unter Lidern hervorstarrte, die die Farbe von Grünspan aufwiesen!
    Wie konnte jemand so leben? Sie weigerte sich, das Zimmer wahrzunehmen, verdrängte es aus ihrem Bewußtsein.
    Agnes anzusehen war nur wenig besser. Die völlig altersschwache Frau saß mit gespreizten Knien auf ihrem Stuhl mit viereckiger Lehne und starrte sie unverblümt forschend an. »Wie ich sehe, werden die Familienmerkmale gut vererbt.«
    »Tatsächlich?« murmelte Marianne.
    »Ja.«
    Das eine Wort, dann Schweigen. Gab es in Agnes’ Regnum keine Floskeln, mit denen man ein Gespräch einleitete?
    »Nun Mary Ann, was ist los? Du bist nicht gerade jemand, der nur so zum Vergnügen das Kastensystem durchbricht.«
    Kastensystem! Was für eine entsetzliche Art, den GU auszudrücken! Der Fauxpas brachte sie ganz durcheinander. »Mein Vater sagte … er sagte …«
    »Er hat mir erzählt, was er sagte, nämlich daß er dir geraten hat, mich aufzusuchen, da ich lange genug gelebt habe, um etwas Vernunft anzunehmen. Dein Teenager verkehrt also mit Gossenkindern, was? Wird ihr guttun.«
    »Gut!«
    »Kreisch mich nicht an! Wird ihr nicht schaden, richtigen Menschen zu begegnen und die häßliche Seite einiger Tatsachen kennenzulernen.«
    »Aber ich habe versucht, sie zu beschützen«, brabbelte

Weitere Kostenlose Bücher