Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
Vom Netzwerk:
mit einem Riemen in der Hand verlor ihre Mutter manchmal jede Selbstbeherrschung, als ob irgend etwas in ihr, einmal losgelassen, sich wie rasend freien Lauf verschaffte. Ellaline ging über zu kritischer Erwägung. »Das dürfte Spaß machen.« Das Schaudern ihrer Mutter merkte sie sich als Erinnerung an ihren Triumph. »Selbstverständlich werde ich gehen.«
    Marianne vernahm die nicht zu unterdrückende Schadenfreude. ›Ich habe ein Monster geboren!‹
    Mit einem Lächeln ursprünglicher Unschuld fragte das Monster: »Fällt Tante Agnes das Haar aus?«
    Die Unterredung endete in verständnislosem Starren.
     
    Seit den Anfängen der Sklaverei in uralter Zeit blieb immer schon nur sehr wenig des vermeintlichen privaten Tuns und Handelns der Gesellschaft vor den scharfen Augen und Ohren der Gesindestube verborgen. Perkins, der Chauffeur, wußte mehr über Agnes und die entfernteren Ausläufer der Familie als Marianne, und er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum er Ellaline zu ihr fuhr.
    Was Ellaline betraf, hielt er sie für ein reiches Miststück, das regelmäßig Prügel brauchte. Da er wie die meisten Dienstboten ein ziemlicher Snob war, billigte er ihren Umgang mit Gossenkindern nicht, mußte aber zugeben, daß sie auf ihre Weise recht helle war. Zum Beispiel bemerkte sie rasch die Veränderungen in der umgebenden Architektur und erkannte, daß sie über vertrautes Gebiet hinaus gebracht wurde.
    »Wo sind wir, Perky?«
    »Auf dem Weg zu Mrs. Ballantyne.«
    Ellaline verzog das Gesicht während sie die eher kleinen (nach ihren Maßstäben) viereckigen Häuser eines vergangenen Zeitalters betrachtete; auf alten Bildern gab es Häuser wie diese.
    »Sie würde nicht hier leben. Wenn sie meine Tante ist, muß sie in Mamis Regnum sein. Sie würde nicht in einer dieser scheußlichen Schachteln leben.«
    So war das also; diese ›behandelten‹ Spinner waren derart geprägt durch ihre Furcht vor der Zeit, daß selbst die schlichtesten Wahrheiten in soziale Tabus verstrickt wurden. »Vielleicht ist sie nicht wirklich deine Tante.« Das Kind würde es früh genug herausfinden. »So eine Art Ehrentante.«
    »Ich verstehe.« Sie verstand es nicht, noch nicht. »Welches Regnum ist dies?«
    »Nummer vier – Periode der Intellektuellen Frauen.«
    »Ich wußte nicht, daß sie Nummern haben. Ist Nummer vier alt?«
    Was für ein Wort! Sie sollte eigentlich überhaupt nichts darüber wissen, daß es alte Leute gab. Das hatte sie von ihren Gossenkinderfreunden gelernt. »Ziemlich«, sagte er vorsichtig.
    »Wie alt, Perky?«
    »Schwer zu sagen.« Ach, zum Teufel damit! »In ihrem zweiten Jahrhundert.«
    »Scheiße!« sagte Ellaline.
    »Das will ich nicht gehört haben, Miss. Und den Vierern gefällt es so.«
    »Wirklich? Kennst du alle Regna, Perky?«
    »Fahrer kennen die ganze Stadt, Miss.«
    »Wie viele gibt es?«
    »Acht. Nummer acht ist Ihre. Das sind alle, bis jetzt.«
    »Was meinst du damit, bis jetzt?«
    »Seit die Behandlung begonnen hat. Erzählen Sie bloß nicht herum, daß ich Ihnen das gesagt habe.« Sie mochte ein reiches Miststück und ein Satansbraten sein, aber man konnte ihr vertrauen.
    Eine Weile lang schwieg Ellaline. Der Flipper bewegte sich ruhig, geschmeidig, langsam knapp über der Erdoberfläche dahin, während Perkins nach der richtigen Adresse Ausschau hielt.
    »Perky, was geschieht, wenn man keine Behandlungen bekommt?«
    »Man …« Die Versuchung war groß, aber er ging auf Nummer sicher. »Nach einer Weile … äh … verscheidet man.«
    »Was ist das?«
    »Das fragen Sie lieber Ihre Tante Agnes.«
    Sie dachte daran zu fragen, ob es das gleiche wie ›Sterben‹ sei, aber das würde ihr auch nicht weiterhelfen, da sie nicht wußte, was ›Sterben‹ war. Statt dessen fragte sie: »Wie alt bist du, Perky?«
    »Achtundzwanzig, Miss.«
    »Wirst du für immer bei uns bleiben?«
    »Geht nicht, Miss.«
    »Och, Perky! Warum nicht?«
    »Wir bleiben nie länger als bis dreißig.«
    »Aber warum?«
    Er warf einen Blick auf ihr verwirrtes Gesicht. Reiches Miststück oder nicht, sie war besser als die meisten. »Man schickt uns weg.«
    »Warum?«
    »Zu alt mit dreißig«, sagte er heftig. Weil sie dann jeden Tag mitansehen müßten, was am Ende auf sie zukommt.
    »Fällt euch dann das Haar aus?«
    Zwischen zwei Lachkrämpfen fragte er: »Wo haben Sie denn das her?«
    »Ein Gossenkind hat es mir erzählt.« Mit der vorsätzlichen Absicht zu schockieren fuhr sie fort: »Er sagte, daß man sich

Weitere Kostenlose Bücher