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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Marianne. »Ich habe versucht, sie anständig zu erziehen. Ich habe versucht …«
    »… sie genauso unwissend und dumm zu halten wie dich selbst. Und sie verübelt es dir. Gut.«
    Marianne stand auf. »Du schändliche, entsetzliche Frau!«
    Die schändliche, entsetzliche Frau lehnte sich nach vorn, streckte einen muskulösen Arm aus und schubste. Marianne setzte sich und brach in Tränen aus. »Du verstehst das nicht. Es ist nicht bloß das ›befreite‹ Gehabe eines Teenagers. Es sind die entsetzlichen Dinge, die sie sagt.«
    »Wie zum Beispiel?«
    »Sie würde nicht wagen, es in meiner Gegenwart zu tun, aber man hat mir erzählt, daß sie über …« Das Wort wollte ihr nicht über die Lippen kommen. »… das Große T spricht!«
    »Tod?«
    Marianne zuckte zusammen. Sich so etwas direkt ins Gesicht sagen lassen zu müssen! Sie nickte elend.
    »Nun, darüber zu reden, wird sie nicht umbringen«, sagte Agnes. »Hast du ihr erklärt, was das Wort bedeutet? Nein, natürlich nicht; du wüßtest nicht einmal, wie. Und ihr wollt Neo-Viktorianer sein! Die Viktorianer waren hinter ihrer Zimperlichkeit ein ziemlich nüchterner Haufen, aber ihr seid bloß jede Menge hochtrabendes Getue mit nichts dahinter. Schick mir das Kind vorbei! Am Donnerstag. Morgens. Nicht später als zehn Uhr. Ich werde ihr den Kopf zurechtrücken. In Ordnung?«
    Es klang überhaupt nicht in Ordnung, aber wie konnte man einem Drachen widersprechen, der Muskeln aus Stahl hatte und einen durch die Gegend schubste?
    Marianne stimmte zu und floh.
    In letzter Zeit hatte sie das Gefühl, ständig vor irgend jemandem oder irgend etwas auf der Flucht zu sein. Sie sollte wirklich ihren Psykomforter aufsuchen.
     
    Ellaline davon zu überzeugen, einen schönen Sommermorgen an irgendeine Tante zu verschwenden (irgendeine erwachsene, salbadernde, lästige alte Schachtel) war nicht leicht.

    »Ich habe keine Tante Agnes.«
    »Doch, hast du, Liebes.« Es war erlaubt, für eine gute Sache zu lügen; man durfte das Kind nicht mit einem GU von vier Regna erschrecken.
    »Ich habe noch nie von ihr gehört.«
    »Möglich«, sagte Marianne vage, »unsere Familie ist so groß. Wir bleiben nicht immer in Verbindung miteinander.«
    »Warum soll ich sie überhaupt besuchen?«
    »Weil sie darum gebeten hat, daß du sie besuchst.«
    »Warum?«
    »Sie hat dir etwas zu sagen.«
    »Was will sie mir sagen?«
    Marianne vernahm den bockigen Tonfall und erkannte die Kampfansage. Sie hätte dies sorgfältiger planen sollen. »Das ist Tante Agnes’ Sache.«
    Ellaline hatte ein geübtes Ohr für die Ausflüchte ihrer Mutter. »Ich will es ohnehin nicht wissen. Ich kenne sie nicht. Ich werde nicht hingehen.«
    Marianne dachte über die entschlossene Kampflust und die undamenhaften Muskeln nach, die sich unter dem Babyspeck entwickelten, und fragte sich, ob Schläge nicht langsam unklug wurden. In letzter Zeit hatten die massiven viktorianischen Prügel, die man in Fällen von Widerspenstigkeit für angebracht hielt, nach den obligatorischen Tränen ein mürrisches und undurchdringliches Schweigen hervorgerufen und eine nur sehr kurzlebige Besserung. Vielleicht war es das Beste, den Rat ihres Psykomforters zu befolgen und das Interesse des Kindes zu wecken; dies wiederum verlangte nach ihren Fähigkeiten auf dem Gebiet ›hingebungsvolle Mutter‹.
    »Ich finde, du solltest hingehen, Liebes.«
    »Aber warum?«
    »Weil deine Tante Agnes Pädagogin ist …« (das stimmte) »… und sie dir etwas erklären möchte. Ich bin sicher, es wird dich interessieren.«
    Da ihre Mutter sich ganz offensichtlich auf dem Rückzug befand, kam es jetzt nur noch darauf an, den Druck aufrecht zu erhalten. »Woher soll ich das wissen? Was ist es?«
    »Etwas sehr Wichtiges«, sagte Marianne nervös.
    »Aber was?«
    »Es steht mir nicht zu …«
    »Ich gehe nicht hin.«
    Marianne gab nach, da sie es versäumt hatte, die Positionen für Versuchung und/oder Erpressung vorzubereiten. »Tante Agnes will dir etwas über …« Beim besten Willen konnte sie nicht die Konditionierung eines ganzen Lebens durchbrechen, die den letzten Fluch umgab.
    »Worüber?«
    »… über …«, sagte Marianne verzweifelt, »das Große T erzählen.« Mehr konnte eine Mutter nicht tun.
    »Du meinst To …« Ellaline unterbrach das halb ausgesprochene Wort gerade noch rechtzeitig. Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter versprach, daß eine derart herausfordernde Ungehörigkeit einen bislang unerreichten Grad von Gewalt auslösen mochte;

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