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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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sein, die die Augen vor den Tatsachen verschließt und deren Leben bestimmt wird von der Angst vor der Zukunft.«
    »Ich glaube nicht, daß ich das alles verstehe«, sagte Ellaline.
    »Deswegen bist du ja hier, damit ich mich mit dir über jene Tatsachen des Lebens unterhalte, von denen deine Mutter nicht allzu viel versteht, selbst wenn sie sich dazu überwinden könnte, sie laut auszusprechen.«
    »Die Tatsachen des Lebens? Meine Freundin Jennie hat mir ein Buch darüber gezeigt. Es heißt ›Wie man Es macht ohne Es zu werden‹.«
    Kinder ändern sich nie, dachte Agnes, Gott sei Dank. »Ich würde dieses Buch nicht empfehlen, und das sind nicht die Tatsachen, über die wir uns unterhalten müssen. Wir werden uns über Altern und Tod unterhalten.«
    »Ja!« Ellalines Augen blitzten. »Was ist Tod?«
    Sie hatte völlig vergessen, daß Tante Agnes altersschwach und abstoßend und seltsam war.
     
    Ellaline neigte dazu, die nächsten paar Stunden als die wichtigsten in ihrem Leben zu betrachten, aber das waren sie keineswegs. Vielleicht die faszinierendsten und fesselndsten, aber im Laufe von fast dreihundert Jahren wurde sie mit vielen Dingen konfrontiert, mit denen umzugehen das aufgeregte Verschlingen eines oberflächlichen Wissens in den Schatten stellte.
    Einmal fragte sie: »Aber warum kann nicht jeder behandelt werden? Ist es reserviert oder so?«
    »›Oder so‹ ist der richtige Ausdruck; reserviert für jene, die es sich leisten können.«
    »Können die Menschen in der Unterstadt es sich nicht leisten? Oder die Dienstboten?«
    »Himmel, nein.«
    »Gibt es viele von den armen Menschen?«
    Ausnahmsweise war Agnes verblüfft; ihr war nicht klar gewesen, wie eng die Neo-Viktorianer das Wissen ihrer Kinder über die Welt begrenzten – zweifellos im heiligen Namen der Unschuld, die es vor Schmutz zu bewahren galt, jenem Begriff, der alles umfaßte, was beunruhigend war, oder wovor man um der Bequemlichkeit willen die Augen verschloß. Die Tabus hinsichtlich Gesprächen über Alter und Tod waren zwar dumm, aber verständlich; jemandem vorsätzlich das Wissen um die Struktur der Welt vorzuenthalten war aber kriminell.
    Wütend sagte sie: »Etwa eine Person von tausend kann sich die Behandlung leisten. Sie bedarf teurer Substanzen und teuren Expertenwissens und muß alle paar Jahre wiederholt werden. Und jeder von uns muß das ganze Leben lang per Telemonitor überwacht werden. Antigeriartrie ist der teuerste Industriezweig der Welt.«
    Ellaline versuchte »eine von tausend« zu verstehen, versuchte, die Vorstellung von einer Welt zu schlucken, vollgestopft mit Menschen, von denen sie zwar wußte (so wie sie vage von der Existenz anderer Regna und sogar anderer Länder wußte), über die sie aber niemals hatte nachdenken müssen, Menschen, die nur eine kurze Zeit lang lebten. Außerstande, große Zahlen oder die Bedeutung von ›eine kurze Zeit lang‹ zu erfassen, dachte sie an Jennie und Perkins und brach in Tränen aus.
    Zu erklären, warum Perkins bald aus dem Dienstbotenstab entlassen werden mußte, war nicht leicht, aber Agnes war eine außerordentlich fähige Ratgeberin mit einem Talent dafür, abstrakte Schrecken in faßbare Phantasievorstellungen zu verwandeln. Sie betrachtete es als Kompliment, als Ellaline schließlich ihr Urteil abgab: »Ich finde, es ist einfach albern so zu tun, als ob etwas nicht da wäre, wenn man nicht hinsieht. Die Dienstboten können doch nichts dafür.« Sie betrachtete Agnes genau. »Es ist mir egal, ob ich in hundert Jahren oder irgendwann so aussehe wie du. Du hast immer noch Spaß, oder?«
    Ohne eine Miene zu verziehen, stimmte Agnes zu, daß sie noch immer Spaß hätte und verkniff es sich hinzuzufügen, auf Weisen, von denen du noch nicht einmal träumst; dies zu erklären hätte bedeutet, mit dem Feuer zu spielen. Sicherlich würde ihre Mutter sie über Sex aufklären können, trotz ›Wie man Es macht ohne Es zu werden‹? Oder etwa nicht? Es begann zweifelhaft zu erscheinen.
    Die Vorstellung vom Tod war unglaublich schwierig zu erklären. Das Kind hatte noch nie auch nur ein totes Tier gesehen, ganz zu schweigen von einem menschlichen Wesen; und das Beispiel eines zerquetschten Käfers wäre wohl nicht gerade der vielversprechendste Auftakt zum Thema gewesen. Schließlich kam sie auf die ausgestopften Tiere im Museum, aber es war trotzdem nicht leicht. Die Vorstellung einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen, aufzuhören, drang nicht wirklich zu dem Mädchen durch. Sie

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