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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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vollpinkelt und stinkt und dann irgendwie nicht mehr lebendig ist. Was bedeutet das?«
    Perkins brachte den Flipper mit einem unnötigen Ruck zum Stehen. »Das ist das Haus. Wurde auch, verdammt noch mal, Zeit.«
    »Dienstboten dürfen nicht fluchen«, sagte Ellaline.
     
    Für Ellaline, im Jungbrunnen geboren, gab es nur junge Menschen. Jene, die so alt aussahen wie ihre Mutter, stellten die Grenze des Alterns dar und erschienen ihren jungen Augen eindeutig historisch. Daß diese Menschen drei Generationen umfaßten, in Unveränderlichkeit bewahrt, war eine Information am Rande, von wenig Bedeutung.
    Gelegentlich bekam sie dennoch ältere Menschen zu Gesicht. Ab und zu tauchte so ein altersschwacher Unglücklicher überraschend in einer Straße auf, und im Park am Rande der Unterstadt gab es besonders abstoßende Individuen, aber ihre Augen nahmen sie zur Kenntnis, ohne zu begreifen; etwas stimmte mit ihnen nicht, und es war nicht notwendig, darüber nachzudenken. Bei dem Schwall von Umschreibungen, Ausflüchten und affektierten Gepflogenheiten, die den Begriff des Alterns umgaben, hatte sie kaum eine Chance zu verstehen, was sie sah. Man wuchs heran, bis man so aussah wie Mami, und dann blieb man so – was sonst?
    Agnes’ Erscheinung, mit Falten im Gesicht und welker Haut und verfärbtem Haar, war daher erschreckend. Am liebsten hätte sie sich gleich wieder verzogen, wollte mit dieser fremdartigen Person nichts zu tun haben – aber sie war auch neugierig auf Ungewöhnliches, und es mangelte ihr nicht an Mut.
    »Ich möchte zu Tante Agnes.«
    »Du bist Ellaline?« ein dachte-ich’s-mir-doch-Nicken. »›Tante‹, wie?« Ein Schnauben. »Nun, ich bin Agnes.«
    Mami sagt mir nie das, worauf es ankommt, dachte Ellaline. So höflich wie ihre Zweifel dies zuließen, fragte sie: »Bist du krank?«
    »Nein Ellaline, ich bin mittleren Alters.« Der Begriff schien bei ihr nicht anzukommen. »Steh nicht auf der Türschwelle herum, komm herein!«
    Ellaline machte drei abenteuerliche Schritte hinein in jenes Wohnzimmer, das ihre Mutter versucht hatte aus ihrer Wahrnehmung zu verbannen, und fragte: »Ist dies dein Unterrichtsraum?«
    Agnes lachte, was einen Großteil der Grimmigkeit aus ihrem Gesicht verschwinden ließ, und erklärte ihr: »Es ist mein Wohnzimmer.«
    »Aber hier sind ja gar keine Möbel, um richtig darin zu wohnen.«
    »Es ist genug da: Stühle, Tisch, Sofa, Bilder. Du bist daran gewöhnt, daß dein Zuhause vollgestopft ist mit nachgemachtem viktorianischem Trödel, nicht wahr? Etageren und Sofaschoner, mein Gott!«
    Ellalines Gesicht verhärtete sich zu jenen flachen Zügen, die ihre Mutter als Ärger im Verzug erkannte. »Scheiße!« sagte sie vernehmlich.
    Agnes schien nicht überrascht, was die ganze Übung unbefriedigend machte. »Warum sagst du das?«
    »Du hast etwas Häßliches über mein Zuhause gesagt, also bin ich häßlich zu dir.«
    »Ist schon recht«, sagte Agnes enttäuschenderweise. »Warum setzt du dich nicht?«
    Verdrossen, da eins ihrer wirksamsten Geschütze versagt hatte, suchte Ellaline sich den am härtesten aussehenden Stuhl aus, um sich nicht dazu verleiten zu lassen, sich zu entspannen; bei dieser Hexe mußte sie auf der Hut sein. Immer noch auf einen Vorteil aus fragte sie: »Warum siehst du so krank aus?«
    »Ich sehe nicht krank aus. Ich sehe nur älter aus als deine Mutter, aber das ist keine Krankheit.«
    »Älter?« Das Wort erhielt langsam eine sichtbare Bedeutung. »Heißt das mehr Jahre?«
    »Ja.«
    »Aber Mami wird nicht – älter.«
    »Doch, nur ein winziges bißchen jedes Jahr, aber du merkst es nicht, weil die Veränderung gering ist.«
    »Aber die Behandlungen machen, daß man immer gleich bleibt.«
    »Nicht ganz. Sie verlangsamen den Alterungsprozeß – das ist das, was einen älter aussehen läßt. Ich bin fast hundert Jahre älter als deine Mutter.«
    »Mannomann!« sagte Ellaline, für die ein Jahrhundert eine undefinierbare historische Zeitspanne war. Die Neugier überwand ihre Abwehrhaltung. »Als du wie Mutter warst, war da alles anders?«
    »Viel besser, wie ich meine. Aber jeder glaubt, daß das eigene Regnum das beste ist. Findest du nicht, daß ›befreit‹ sein besser ist als das Festhalten an gesellschaftlichen Umgangsformen?«
    »Natürlich, du nicht?«
    »Ich finde, daß es hauptsächlich aus schlampigen Manieren, unanständigen Ausdrücken und schlechter Laune besteht, aber ich stimme zu, daß es besser ist, als eine zimperliche Möchtegerndame zu

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