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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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ab.
     
    Der Alte Jock, dessen Name ebenso wie jegliche Anspielung auf ihn für immer aus dem Haus verbannt worden war, nahm in Ellalines Vorstellung einen besonderen Rang ein und verdrängte damit Jiggles die Werkatze und Thorinda die Amazonenkriegerin, ihre ältesten Holovid-Lieblinge. Im Geiste entwarf sie ein Bild des Alten Jock – haarlos, grabentiefe Runzeln, häßlich wie die Nacht, vollgepinkelt und stinkend wie ein vergammelter Fisch – im großen und ganzen wie eine Figur aus einem Horrorvid. Sie wußte, daß sie völlig danebenlag, daß die Wirklichkeit wahrscheinlich alltäglich und langweilig war, aber jemand, dessen bloßer Name Mami zur Weißglut treiben konnte, mußte doch sicher etwas Interessantes an sich haben.
    Sie wollte es selbst sehen.
    Mit ihrer Ansicht nach beachtlicher List schlug sie einen weiteren Besuch bei Agnes vor (die möglicherweise aufgeschlossen genug wäre, ihr zu helfen). Das Resultat war eine warum-muß-Gott-mich-heimsuchen-Tirade über jene entsetzliche Frau, die unaussprechliches Wissen in den Kopf eines unschuldigen Kindes pflanzte.
    Agnes wurde zur Sperrzone erklärt.
    Der Park am Rande der Unterstadt wurde zur Sperrzone erklärt.
    Zu Hause wurde die junge Jennie zum Schlechten Einfluß und somit zur Sperrzone erklärt.
    Das Embargo auf Jennie war der letzte Tropfen. Ellaline war fest entschlossen. Der Alte Jock wurde zum Projekt.
     
    »Wollen Sie, daß ich vorzeitig rausgeworfen werde?« fragte Perkins. »Vergessen Sie’s, Kleine!«
    Wutentbrannt griff Ellaline unterhalb der Gürtellinie an. »Dienstboten haben mich als ›Miss‹ anzureden, nicht als ›Kleine‹.«
    »Wenn ich Ihrer Mutter erzähle, was Sie vorhaben, werden Sie nicht ›Miss‹, sondern ›Mist‹ heißen.«
    »Du haßt mich!«
    »Nicht immer«, sagte Perkins. Er sann darüber nach, daß, wenn er mit dreißig entlassen würde, sie gerade reif wäre für eine kleine Indiskretion. Schade.
     
    Es dauerte lange bis Ellaline, die es nicht gewöhnt war, praktische Probleme selbst zu lösen, darauf kam, daß der Alte Jock im Telefonbuch ausfindig gemacht werden konnte – aber es gab keine Eintragung unter ›Alter Jock‹. Nach beträchtlichem Kopfzerbrechen kam ihr die Idee, ihre Abstammung durch die genealogischen Aufzeichnungen zurückzuverfolgen, und obgleich sie die besten Aussichten hatte, in dem Wirrwarr von Vorfahren, Verwandten und unehelichen Kindern unterzugehen, kam sie schließlich doch auf den unglaublichen Ian McIvor McAdam Higgins
    – den ersten Behandelten –
    – geboren im altehrwürdigen, unglaublichen Jahr 1972 –
    – was bedeutete, daß er zweihundertachtundsiebzig Jahre alt war, älter als jeder andere Mensch –
    – und der nicht einmal drei Meilen entfernt lebte!
    Sie studierte die Straßenkarte und entschied, daß der Versuch durchführbar war; sie würde die Ecken dreier Regna abschneiden und eines ganz durchqueren. Der Treck an sich würde schon ein Abenteuer sein.
     
    Wie sie es sich hätte denken können, meldeten ihre Hauslehrer ihre Abwesenheit. Mariannes erster Gedanke – ihr intelligenter erster Gedanke – war, die Polizei zu benachrichtigen. Ihr weniger intelligenter zweiter Gedanke galt den entsetzlichen Orten, an die eine wild umherstreifende Ellaline gelangen konnte. Den öffentlichen Skandal vor Augen verwarf sie jeden Gedanken an die Polizei und schickte Perkins im Flipper los, um die Straßen abzusuchen, zu durchkämmen und auszukundschaften, und wehe er kehrte ohne sie zurück.
    Wie jeder in der klatschsüchtigen Gesindestube wußte Perkins, wo all die Leute wohnten, die etwas darstellten, und nahm Kurs auf das Haus des Alten Jock, dem offensichtlichen ersten Ziel. Er fand Ellaline in zwanzig Minuten, zwei Meilen entfernt; sie hatte sich verlaufen und schwankte zwischen Tränen und einem Wutanfall hin und her.
    »Ach Perkins, muß ich wirklich nach Hause?«
    Perkins dachte darüber nach. Schließlich versuchte das Kind lediglich mit einem Wissen klarzukommen, das 99,9 Prozent der Rasse als selbstverständlich hinnahmen. Ihr dies auf unbestimmte Zeit zu verweigern, würde, so sagte er sich, ihre Unzufriedenheit in Rebellion verwandeln; in der dummen Regnagesellschaft konnte das Ergebnis unvorhersehbar und seelisch grausam sein.
    »Bald«, sagte er, da er es mit seinem Mut nicht übertreiben wollte, »aber erst schauen wir bei Tante Agnes vorbei. Sie ist eine vernünftige Frau.«
     
    »Um Himmels willen, Perkins«, fragte Agnes, »was erwarten Sie von mir?

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