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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Seufzen klang, so als gähne ganz Venedig. Aus der Tiefe, gewissermaßen aus dem Keller der Stadt, ertönte der dumpfe Klang von sich in Bewegung setzender Maschinerie, gefolgt von einem gedämpften Murmeln, leisem Knistern und Rascheln, einem Gurgeln und Rauschen. Seymour konnte deutlich sehen, wie sich der Wasserspiegel im Kanal absenkte, und nach einigen wenigen Minuten wurde der Grund sichtbar. Er bestand aus feucht glänzendem Kunststoff, auf dem sich Abfall aller Art zeigte. Sogar einige ertrunkene Ratten lagen zwischen den Konservenbüchsen und anderen Abfällen.
    Begleitet von einem ungleichmäßigen, fast stotternden Summen schob sich eine Stahlplatte aus dem Dunkel der Nacht hervor und glitt durch den nun leeren Kanal. Auf beiden Seiten ragte sie bis ganz dicht an die Ufermauern heran. Wie ein Hobeleisen von der Größe eines Bulldozers sah sie aus, und Seymour beobachtete, wie sie den ganzen Müll, der sich auf dem Grund angesammelt hatte, vor sich herschob. Nach einer Weile wurde sie wieder von der Finsternis verschluckt, aber das Brummen und Knirschen war noch eine Weile zu vernehmen.
    »Vor langer Zeit sorgte die Lagune selbst für die Reinigung der Kanäle«, sagte die junge Frau mit gedämpfter Stimme. »Mit den gegensätzlichen Strömungen von Ebbe und Flut.«
    Erneut regte sich der unsichtbare Riese unter der Stadt, und eine Wasserwoge gischtete heran, spritzte an den Ufermauern in die Höhe und bildete gurgelnde Strudel. Dann wurde die Zufuhr gleichmäßiger, und es dauerte gar nicht lange, bis der Kanal wieder gefüllt war.
    Die junge Frau hakte einen Punkt auf einer Liste ab. »Erledigt. Jetzt ist der Rio dei Miracoli dran. Willst du mitkommen?«

    Seymour war versucht einzuwilligen, schüttelte dann aber den Kopf. »Vielleicht haben wir noch einmal Gelegenheit, uns länger zu unterhalten. Jetzt muß ich mich auf den Weg nach S. Trovaso machen.«
    »Ist nicht weit. Geh durch die Gasse und überquer drüben die Brücke. Rechts findest du dann den Platz. Vielleicht begegnest du Umàn. Er hält sich öfters dort auf.«
    Seymour hob zum Abschiedsgruß die Hand, und das Mädchen verschwand in der Dunkelheit.
    Es war tatsächlich nicht weit. Er erkannte den kleinen Platz sofort wieder, obgleich die eine Lampe an der Ecke nur einen Umkreis von einigen wenigen Metern erhellte.
    Niemand war zu sehen. Paulus ließ sich auf der halbhohen Mauer nieder, wo am Vorabend Umàn gesessen hatte, und beobachtete die Umrisse der Häuser, die sich vor dem Sternenfunkeln des Himmels abzeichneten. Hinter ihm leckte das Wasser des Kanals mit leisem Plätschern über die Stufen der kleinen Treppe.
    Seymour wußte, wohin er gehen wollte, aber trotzdem verharrte er und ließ einige Zeit verstreichen, damit das Verlangen in ihm weiter zunahm. Er wartete, bis das verlockende Empfinden ganz stark geworden war und in seiner Intensität nur mit der Erinnerung an jene Nacht verglichen werden konnte, in der er zum erstenmal den Körper einer Frau kennengelernt hatte.
    Dann erhob er sich von der Mauer und trat auf die Tür des Schiffsschuppens zu. Er dachte nicht einmal an die Möglichkeit, daß das Tor geschlossen und er dadurch zur Umkehr gezwungen sein mochte.
    Die eine fehlende Wand stellte nichts weiter als ein großes Rechteck dar, das sich nur in seiner etwas helleren Tönung vom allgemeinen Schwarz unterschied. Seymour wußte, wo sich der Lichtschalter befand, aber er genoß die Finsternis.
    Er näherte sich der Rutsche und schritt dabei über einen weichen Teppich aus Holzspänen hinweg, und kurz darauf sah er die Umrisse eines länglichen und mit einer Plane bedeckten Objektes vor sich. Er beugte sich zu dem Tuch herab, holte tief Luft und nahm einen Geruch wahr, der ihm gleichzeitig völlig fremd und ganz vertraut erschien. Noch einige Male atmete er tief durch, und der Duft war wie eine Droge, die ihn erregte.
    Vorsichtig, fast zärtlich strich Paulus mit den Händen über die rauhe Plane und stellte sich die sanfte Wölbung der sich darunter verbergenden Gondel vor, die warme Glätte, die wundervolle Maserung im Holz, die geschwungenen Flanken, das hohe Heck. Es stimmte: Dieses Kunstwerk stellte eine Synthese dar und vereinte in sich die Essenz all dessen, was Seymour umgab.
    Der Schiffsschuppen verwandelte sich in einen Alkoven. Das Wasser des Kanals spülte so weit in den Raum herein, wie es die Neigung des Bodens zuließ. Kleine Wellen schlugen sanft an den Rand der Rutsche und verursachten Geräusche, die nach

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