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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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die Lippen und verließ das Zimmer.
    Vor der farbigen Schiebefläche blieb er noch eine Weile stehen, um zu hören, ob die Gäste zurückkehrten, aber die Stille dauerte an.
     
    Die Luft war erfüllt vom Geruch des Winters, dem Duft welkender Blätter und des Nebels, vom Wasser benetzten Mooses und des Salzes, das an Hauswänden sonderbare Muster bildete; da und dort kräuselte sich Rauch in die Höhe – von den mit glänzenden Messinggriffen versehenen Grillen, auf denen Kastanien rösteten.
    Es waren wahrhaftige Aromen des Winters.
    Seymour war auf dem Weg nach Hause und wanderte gemütlich dahin. Er trat auf den alten Mann hinter einem Grill mit röstenden Kastanien zu.
    »Hallo, Pau«, grüßte der ihn. »Sieht ganz danach aus, als wolle der Winter auch dieses Jahr kommen, wie?«
    »Tja«, erwiderte Seymour und wärmte sich die Hände über dem Feuer. In seinen Knochen begann er bereits die Kälte des Alters zu spüren.
    »Noch um diese Zeit draußen?« fragte er.
    »Ich warte nur noch auf die letzte Gruppe, bevor ich heimgehe«, erwiderte der Kastanienröster, der die Hände tief in die Taschen der dicken Jacke geschoben hatte. »Möchtest du Kastanien?«
    »Komm doch zu mir, wenn du hier fertig bist, und bring einige mit. Dann machen wir eine Flasche vom guten auf und lassen es uns wohl sein.«
    »Gern, Pau. Bis später!«
    Seymour schritt auf die Tür zu, und mit den Fingern tastete er nach dem Schloß; auf seine Augen konnte er sich inzwischen nicht mehr ganz verlassen.
    Er begann die Treppe emporzusteigen, und ab und zu mußte er stehenbleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Er durchquerte jenen Saal, in dem so viele von Tüchern bedeckte Möbel standen – das ›Titanenzimmer‹ nannte er diesen Raum seit dem nun schon viele Jahre zurückliegenden Tag, an dem Umàn ihm die Halle gezeigt hatte. In diesem Raum hatte er auch zum erstenmal das Telefon gesehen. Paulus fragte sich, wann es wohl für ihn klingeln mochte, und er war sicher, daß der Anruf nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Inzwischen waren auch schon Dotòr, der Astronom, Bubàna und Umàn angerufen worden.
    Ähnliche Telefone gab es auch in anderen Städten Europas, in denen Männer und Frauen sich ganz der Aufgabe widmeten, die Errungenschaften einer uralten Kultur zu erhalten. Niemand wußte genau, wie es geschah, aber nachdem jemand einen Anruf erhalten hatte, wurde der Betreffende an einen Ort bestellt, fand Zugang zu einer anderen Existenzebene, wo sich all die Gedanken und Ideale konkret manifestieren konnten, die den Menschen hatten erwachsen werden lassen – eine Welt, in der nicht nur die Utopie eines Thomas Morus Wirklichkeit geworden war, sondern auch der Sonnenstaat Tommaso Campanellas, in der die Anschauungen der großen Philosophen ein gleichrangiges Miteinander eingegangen waren, in der das Greifbare neben dem Metaphysischen existierte, in der kein Gedanke mit dem Hindernis der Alltäglichkeit konfrontiert wurde.
    Ein gewaltiges Kulturvermächtnis durfte nicht dem Konsumzwang als Opfer dargebracht oder von einem elektronischen Totalitarismus vereinnahmt werden; und es mußte verhindert werden, daß neue Ideen von der Arroganz der Unwissenden verschmäht und so vom Strom der Zeit davongespült wurden.
    Seymour betrat das Zimmer, dessen Wände aus Glas bestanden. Seit vielen Jahren schon wohnte er dort. Er öffnete die Klappe des Ofens, und mit einem kleinen Schürhaken stocherte er in der Glut. Er legte einige Holzspäne darauf, und als das Feuer wieder entfacht war, schob er dickere Scheite nach und schloß die Klappe.
    Er holte eine Flasche und stellte sie auf den Tisch. Dann schob er den Stuhl an die Glaswand heran, setzte sich, zündete sich die Pfeife an und betrachtete den Himmel durch das kristallene Mosaik.
    Es mochte noch ungefähr eine halbe Stunde dauern, und wenn Carlòn rechtzeitig mit den Kastanien kam, so überlegte Paulus, konnten sie die Raumstation vielleicht gemeinsam beobachten. In einer solchen Nacht mußte sie deutlich sichtbar sein: Der Nebel reichte nur gerade bis zum ersten Stockwerk des Gebäudes, und der Himmel war klar und schwarz. Die Man’s Pride würde wie ein besonders heller Stern ihre Bahn ziehen.
    Seymour nickte ein. Carlòn weckte ihn später, und er setzte sich mit ihm an den Tisch, um die Kastanien zu essen und ein Gläschen vom guten Wein zu trinken.
    Die Man’s Pride war längst wieder hinterm Horizont verschwunden.
    Schweigend schälten die beiden alten Männer die Kastanien

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