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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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hörte man die Rufe nächtlicher Tiere, das Flüstern des Windes, wenn er durchs nahe Geäst fuhr, und ein Knistern, wenn sich ein Zweig unter der Last eines Vogels bog. So bezaubernd die Atmosphäre war, so wenig konnte das Mädchen noch daran Gefallen finden.
    »Ich weiß, was dich beunruhigt«, sagte der Alte, als er sich neben ihr ins Gras niederließ. »Ich kann dir keine deiner Fragen beantworten. Ich bin nur hier, um auf dich acht zu geben. Mach mir meine Aufgabe nicht zu schwer. Irgendwann werden sich alle Rätsel lösen.«
    Das Mädchen sah einem silbrig schimmernden Fisch nach, der einmal kurz aus dem Wasser sprang, um dann weiter unter der Oberfläche dahinzuschnellen. Sie streckte hilflos eine Hand aus, ehe sie in schwächlichem Tonfall murmelte: »Aber warum? Woher komme ich? Was tu ich hier? Irgendeinen Sinn muß es doch haben. Solang ich denken kann, lebe ich in diesem Wald. Nicht einmal die Ebene hast du mich je besuchen lassen. Gewiß, es hat mir an nichts gefehlt, aber worin liegt der Sinn des Ganzen? Ich kenne nichts außer dir und diesem Wald.«
    Der Alte setzte zu einer Entgegnung an, doch für einen Augenblick glaubte er etwas Ungewöhnliches gehört zu haben, hob beunruhigt den Kopf und versicherte sich selbst, es könne nur eine Täuschung gewesen sein. Das Mädchen aber sprang auf und blickte mit angstgeweiteten Augen umher.
    »Was war das?« rief sie. »Hast du es nicht gehört?«
    Noch bevor er sie besänftigen konnte, schwoll der Laut ein zweites Mal für Augenblicke an. Er klang dumpf, fast unterhalb der Hörschwelle, doch er war machtvoll wie ein Beben, das die Erde zittern ließ. Das Tosen herannahender Fluten vereinte sich in ihm mit dem Krachen berstenden Gesteins und dem Lärm gegen Klippen brandender Gischt, doch all das nur in Anklängen. Von einem zum andern Moment schien die Angst des Mädchens den ganzen Wald zu lähmen. Die sanften Geräusche von eben wichen absoluter Stille, in der nur dann und wann das Grollen durchbrach.
    Das Mädchen lief zum nächsten Baum und umklammerte den Stamm. Ihr Blick haftete ängstlich am Gesicht des Alten, der aufgestanden war und sie mit Gesten zu beruhigen versuchte.
    »Es ist nichts. Hab keine Angst. Es wird uns nie erreichen.«
    Sie drückte sich schutzsuchend an den Baum.
    »Nein, du lügst«, schrie sie. »Ich spüre, daß etwas geschehen wird. Was stehst du da und versuchst, mich davon abzulenken?«
    Mit einem Seufzer trat er auf sie zu und zog sie auf die Lichtung. Sie wehrte sich. Schließlich verlor er die Geduld und gab ihr eine unbeabsichtigt kräftige Ohrfeige. Sie stürzte zu Boden. Ihr gelbes Kleid blieb an einem Strauch hängen und zerriß. Während sie entgeistert zu ihm aufblickte, hielt sie den Stoff über ihren Brüsten zusammen.
    »Nun hör mir zu!« schrie er. »Von heute an werde ich dir keine Zugeständnisse mehr machen. Wage dich nicht mehr in meine Nähe, bevor du nicht bereit bist, dich deinem Schicksal bedingungslos zu fügen. Du hast es so gewollt.«
    Er wandte sich um und ging mit raschen Schritten zwischen den Bäumen davon.
    Sie begriff zuerst nicht, was geschehen war, und fand auch keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Momente später war der dumpfe Lärm wieder da. Sie hockte am Ufer des Sees im Gras und blickte zum Himmel, an dem der Mond aufgegangen war und in einem seltsam rotgetönten Licht schien.
    Die letzten Schimmer der Dämmerung verblaßten. Allmählich wurde es wieder still, die gewohnten Geräusche der Nacht kehrten wieder. Der Lärm war verstummt.
     
    Ein wenig später trug der nächtliche Wind ein Pochen an ihr Ohr. Sie kannte das Geräusch, denn es hatte ihr schon in vielen Nächten den Schlaf geraubt. Offenbar arbeitete der Alte an den Marmorskulpturen weiter. Das Pochen war heftig, als würde ihn irgend etwas beunruhigen und dazu antreiben, sein Werk möglichst bald zu vollenden. Es war schon fast Morgen, als es endlich verstummte.
    Sie erhob sich und schlich in den Garten.
    Das Mondlicht war bereits der Dämmerung gewichen, und die ersten Vögel sangen. Dennoch machte der Wald dem Mädchen Angst wie noch nie. Er verbarg so viel. Sie spürte, daß etwas vorging, was auch sie betraf.
    Der Garten war verlassen. Die fertigen Figuren wirkten im unsicheren Licht fast lebendig. Sie fürchtete, die steinernen Abbilder ihrer selbst könnten sich jeden Moment zu ihr umwenden und die bleichen Hände gegen sie erheben. Doch sie gelangte unbeschadet zum Pavillon und fand ihn leer.
    Ratlos blickte sie in

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