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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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die Runde. Der Alte hatte wohl noch an der Statue mit dem Vogelkopf gearbeitet, obwohl sie längst vollendet schien. Frischer Marmorstaub bedeckte das Gras um den Sockel der Figur. Beim näheren Hinsehen bemerkte sie keine Veränderung, und doch schien die Figur unmerklich an Natürlichkeit gewonnen zu haben. Der Marmor begann sich an den Stellen, wo die Arme oder Beine des steinernen Körpers aus dem Gewand ragten, fleischfarben zu tönen. Doch das mochte Einbildung sein.
    Verstohlen schielte das Mädchen die Stufen zum Pavillon hinauf. Dies schien eine günstige Gelegenheit zu sein, etwas zu tun, was ihr eigentlich verboten war. Der Alte hatte stets zu verhindern gewußt, daß sie den Blick in die Ebene mit ihm teilte. Meist hatte sein Rücken die schmale Lücke im Blattwerk verdeckt. Nun aber war sie allein.
    Sie überwand die Befürchtung, er könne von einem Moment zum anderen wieder auftauchen, und ging hinauf.
    Fernab, auf den Gipfeln der Gebirgskette, welche die Ebene abschloß, ging bereits die Sonne auf. Das zerfurchte, wenig bewachsene Gelände, das sich west- und östlich so weit erstreckte, wie der Blick reichte, schien mit flüssigem Gold überflutet. Die Baumgrenze lag nicht weit vom Pavillon entfernt. Bis dorthin reichte bereits die Flut. Man glaubte ihr pulsierendes Glühen näherrücken zu sehen.
    Nach einigen Minuten, in denen ihr Blick sich schärfte, gewahrte das Mädchen zahllose sich hin und her windende Ströme, die in dunkleren Tönen als die übrige Flut leuchteten und vorankrochen wie flüssiger Bernstein, in dem ein rotes Licht glomm.
    Es machte ihr Mühe, sich von dem Anblick zu lösen, um so mehr, weil sich am dämmernden Himmel Wolken zusammenballten. All das geschah lautlos. Sie ging in den Garten zurück und setzte sich unter einem Baum ins Gras.
    Plötzlich wünschte sie sich, der Alte wäre wieder bei ihr, doch auch in den nächsten Stunden tauchte er nicht auf. Nie zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, seinen Beistand so zu brauchen. Er war stets ein eher schweigsamer Wächter gewesen, der zwar dann und wann die Mühe aufbrachte, sich ihres Kummers anzunehmen, aber weit öfter nicht mehr als pflichtschuldiges Interesse an ihr zeigte. Daß er sie heimlich bewunderte, vielleicht sogar begehrte – wofür die Steinplastiken ein deutlicher Beweis zu sein schienen – verdunkelte sein Wesen nur noch mehr.
    Was sie im Lauf der Stunden mehr und mehr beunruhigte, war der Eindruck, daß die Dämmerung im ersten Stadium verharrt sei. Sie ging ein zweites Mal zum Pavillon und sah hinaus. Die Sonne war kein Stück höher gerückt. Wieder vergingen Stunden und noch immer tat sich nichts, nur immer mehr Wolken ballten sich zusammen. Schließlich verfinsterten sie den Himmel und durchbrachen die Stille mit erstem Blitz und Donner.
    Das Mädchen wußte nicht, was sie antrieb, als sie um den Pavillon durch die schmale Schneise im Wald zum Rand der Ebene ging. Dort erstarrte sie und sah dem Schauspiel zu.
    Mit den Gewitterwolken war nun auch die Nacht hereingebrochen und mit ihr kam Regen und Flut.
     
    Bei Tagesanbruch war der Regen abgeflaut. Erstarrte Magmasäulen hoben sich ringsum wie Knochenfinger in den Dunst. Kein Windhauch rührte die Wolken, die im Morgenlicht schwebten. Seit Stunden war es still.
    Noch immer stand sie reglos da. Ihr Rücken war den Trümmern zugekehrt, ihr Blick zum Horizont gerichtet, wo sich zaghaft das frühe Sonnenlicht ausbreitete, Stunde um Stunde weiter über die versteinerten Seen und Tümpel vorankroch. Satte Farben traten an die Stelle der Düsternis, bald leuchtete die Ebene in hellem Gold. Im Erstarren begriffen wanden sich noch warme Lavaströme zwischen den amorphen Felsen.
    Sie war bei allem unverletzt geblieben, empfand nicht einen Hauch von Schmerzen. So starr, als sei sie wie die toten Wälder selbst zu Stein geworden, verharrte sie scheinbar schon seit Ewigkeiten. Ihr schütteres Haar aber bauschte sich wie in einer Brise, die noch aus den Tagen vor der Flut wehte.
    Die geisterhaften Finger des Nebels ruhten über dem Land wie Vorboten einer schweigenden Zeit. Da und dort traten aus Rissen und Spalten im Boden scharfe Dämpfe. An den Oberflächen der Felsen, Marmorblöcke und dem versteinerten Geäst der umgeknickten Bäume taten sich fortwährend neue Poren auf. Allmählich verwandelte sich die erkaltende Landschaft vor ihren Augen zu einem Netz aus feinem Filigran. Felsen wurden zu Schwämmen, Baumkronen zu durchbrochenen Geflechten, Magmaadern zu

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