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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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weiter zu verzweigen, während zwischen ihnen ein Pelz von steinernem Moos zu wuchern anfing. Bald wurden die freibleibenden Wege von felsigen Ranken gesäumt. Das Tempo, in dem sie weiterwuchsen, nahm zu. Auf den Magmaseen breiteten sie sich wie himmelwärts strebende Teichgewächse aus. Das Mädchen fand Gefallen an dieser neuen kristallinen Flora.
    Da ihr Marsch sich ohnehin verlangsamte, nahm sie immer häufiger die Gelegenheit wahr, sich für Minuten irgendwo hinzuknien und die absonderlichen Gebilde zu betrachten. Die Steingewächse formten eine Welt im Kleinen. Ihre Struktur war derart kompliziert in ihren Einzelheiten, daß es Stunden bedurft hätte, auch nur eine einzige Ranke erschöpfend zu untersuchen. Wie alles hier waren sie von poröser Beschaffenheit, mit Furchen an der Oberfläche, Höhlungen und Gängen im Innern. Manchmal war das Mädchen halb darauf gefaßt, sie würde irgendwann kleine Tiere beobachten können, die wie die Pflanzen aus Fels geboren waren. Doch dazu kam es nicht.
    Ihr eigenes Ergehen beanspruchte sie zu ihrem Unmut immer mehr. Allmählich fiel es ihr schwer, sich mit bloßer Willenskraft über ihre eigene Schwäche hinwegzuhelfen. Auch ließ sich nicht leugnen, daß ihr Haar zusehends ergraute, ihre Haut spröde, ihr Gesicht faltig wurde. Ihr Leib hatte seine jugendliche Frische verloren. Diese Spuren konnten nicht nur von der Anstrengung herrühren. Ihre Reserven brauchten sich auf. Doch noch immer lagen die Berge in beträchtlicher Entfernung, und die Sonne brannte unbarmherzig, ohne je der Nacht zu weichen.
    Zunächst spendete der kühle Wind noch Erfrischung, doch bald begann auch er lästig zu werden, denn er nahm an Stärke zu. Am fünften Tag trieb er beißenden Staub vor sich her. Er wehte von den Bergen herab über die Ebene.
    Die anfangs eher idyllische Szenerie der Steingewächse nahm zunehmend bedrohliche Züge an. Die Magmaranken verzahnten sich, während sie in nahezu sichtbarem Tempo aufwuchsen, zu undurchdringlichen Sträuchern, wenig später zu langgezogenen Alleen dicht an dicht stehender Mauern aus Geäst, die aufeinander zuzurücken schienen, um ihr den Weg zu versperren. Zudem behindern Dunst und aufgewirbelter Staub die Sicht, so daß sie sich immer häufiger fragte, ob es nicht besser sei umzukehren. Doch ihr Wille behielt die Oberhand.
    Am sechsten Tag, als sie kaum noch sah, in welcher Richtung sie vorankam, und nurmehr einem inneren Gespür folgend in der eingeschlagenen Richtung weiterirrte, ließ sie sich einmal zu einer längeren Pause nieder und durchdachte ihre Lage. Der Wind pfiff scharf über sie hinweg, der zerklüftete Untergrund schürfte ihre Haut auf. Wie zum Trotz nahm sie ein letztes Mal ihre Kräfte zusammen und zwang sich weiter zu gehen.
    Am siebten Tag vergaß sie schließlich Zeit und Raum, gab es nur noch zweierlei für sie: die Hindernisse, die sich ihr ständig in den Weg stellten, und die mechanischen Überlegungen, wie ihnen auszuweichen sei. Zuletzt tastete sie sich nur noch voran, quälte sich Stück für Stück weiter, immer schwerfälliger, immer langsamer, doch unbarmherzig zäh. Kein Blick vermochte mehr den dichten Staub zu durchdringen, der die Luft erfüllte. Nichts gab Aufschluß über den Weg, der noch vor, und den, der schon hinter ihr lag. Und so gab es nur noch eines, was geeignet war, sie aus ruheloser Starre zu erlösen: ihr Ziel.
     
    Dieser Alptraum aus Staub und Wind endete so rasch, wie jeder Traum mit dem Erwachen endet. Sie ging ein paar Schritte – und der Sturm lag hinter ihr, wie die sich verschränkenden Gewächse und überwucherten Seen. Plötzlich war es still, die ruhige Luft empfing sie klar und weiß. Es dauerte Minuten, ehe ihr Blick die unerwartete Entspannung zu fassen vermochte.
    Offenbar war sie am Fuß der Vorberge angelangt. Vor ihr lag ein sanft ansteigender, schwach bewachsener Hang. Weiter oben begann ein Trümmerfeld zerbrochener Bäume. Und ganz nah beim Waldrand stand ein Pavillon aus weißem Marmor. Inmitten des Gewirrs aus herabgestürzten Baumkronen ließ er sich nur schwer ausmachen, doch kaum war ihr klar geworden, daß sie diesen Ort kannte, wurde ihr Blick von allein an diese Stelle gezogen. Augenblicklich vergaß sie ihre Schwäche und hastete hinauf, um zu sehen, ob dort alles noch so war wie zu dem Zeitpunkt, als sie aufgebrochen war.
    Sie fand den Garten jenseits des Pavillons in unverändertem Zustand vor. Die Marmorstatuen lagen zertrümmert umher, nur eine nicht: die Figur

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