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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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ihr Hemd hing aus der Hose, und in einer Hand hatte sie eine leere Weinflasche. Auf dem Boden lag ein Weinpokal.
    Sie begrüßte uns nicht, als wir unsere Lasten absetzten. Es war Spätherbst, und im Zimmer war es so kalt, daß unser Atem in weißen Fahnen in der Luft hing. Sie schien es nicht zu bemerken. Ich machte mich zuerst daran, das Feuer anzufachen.
    Die weiße Salbe auf Meras Gesicht sprach Bände. Sie trug die Spuren einer staubigen Straße, von starkem Schweiß und Tränen. Doch wir hatten von keinen Überfällen und Kämpfen an diesem Tag gehört, und sie hatte keine sichtbaren Wunden.
    »Ihr habt Wein mitgebracht«, sagte sie. »Sollen wir eine Flasche öffnen?« Sie klang gefaßt. Ein Fremder hätte kaum erkannt, daß sie schon schwer betrunken war.
    Arain öffnete eine Flasche. Kurz darauf dröhnte das Feuer, und wir hatten volle Becher in den Händen.
    Dann fragte Arain: »Was ist geschehen, Mera?«
    Mera lachte laut. Der rauhe, bittere Klang ihrer Stimme ließ mich an Geier denken, und ich bekam Angst.
    »Vor einem Monat schickte ich meinen Freund Hald mit einer kleinen Patrouille den Fluß Dred hinunter. Es war selbstsüchtig von mir. Ich hätte es nicht tun dürfen. Aber er sagte, daß er gehen wollte.« Sie lachte wieder; es war die Art von Lachen, die an Tränen grenzt. Dann sagte sie: »Sie wollen immer gehen.«
    Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Es gab Gerüchte, die Nupaskans hätten eine Möglichkeit entdeckt, sich vor dem Gift zu schützen. Ich befürchtete, daß ein Stoßtrupp unterhalb des Tempels am Dred lagerte, und daß sie einen Überraschungsangriff planten.«
    Mera beugte sich vor und umklammerte die Stuhllehnen. »Hald kam heute zurück und berichtete. Ich saß bei ihm, als er vor drei Stunden starb. Er ritt zu den drei Städten und zurück und suchte nach Nupaskans, die ich mir nur eingebildet hatte.«
    Arains und ich konnten zuerst nichts sagen. Nicht einmal die alten Männer am Feuer wußten von jemand, der in die drei Städte gegangen und lebendig zurückgekehrt wäre.
    »Es tut mir leid«, sagte Arain.
    »Aber er wußte doch, was geschehen würde«, sagte ich. »Warum ist er nur so viel weiter gegangen, als er mußte?«
    Mera lächelte bitter. »Er dachte, er hätte einen Weg gefunden, sich und seine Männer zu schützen. Eine geheime Erfindung von ihm. Eine Art Anzug. Wie ein Chorhemd, Arain. Er hätte meinen Rat annehmen und vorher mit dir sprechen sollen.«
    Aber Arain schüttelte den Kopf. »Du bist zu streng mit dir. Warum ihn aufhalten, wenn er sein Glück versuchen wollte? Außerdem müssen wir mehr über die Städte erfahren. Sag mir, hat er etwas herausgefunden?« Arains Augen glühten im roten Licht der Flammen begierig, und meine Furcht loderte auf wie ein Feuer. Eine kleine Stimme in mir fragte, wer diese gefühllose Frau war. Gewiß nicht jene, die ihr Leben riskiert hatte, um zu Meras Krankenlager zu kommen.
    Mera sah sie mit einem Schweigen an, das tiefer und durchdringender war als jedes Wort. Dann sagte sie langsam: »Er hat nichts gefunden.«
    Arain wandte sich ab und sagte ohne aufzublicken: »Bitte, vergib mir meinen Übereifer. Ich will dieses Wissen zum Wohl von uns allen erlangen. Es überwältigt mich. Die Antwort ist so nahe.«
    Mera sagte nichts, und Arain fuhr fort wie ein Fluß, der nach dem Regen über die Ufer tritt. »Hald war stark, und er war fest entschlossen. Niemand hätte ihn aufhalten können. Was hätten wir ihm sagen können? Nur, daß das Chorhemd von Makna nicht funktioniert. Hätte ihn das gestört, nachdem er einen eigenen Schutz entwickelt hatte?«
    Wenn Mera nicht so betrunken gewesen wäre, dann hätte sie sicher nicht gesagt, was sie nun antwortete. »Wir hätten ihm vom Buch von Makna erzählen können, Arain. Er hätte nicht sterben müssen.«
    In diesem Augenblick wurde ich, ohne es zu wollen, zum Hüter schrecklicher Geheimnisse. Wenn ich sie nur aus meinem Bewußtsein hätte schleifen können wie die Kerben in einem frisch gedrehten Topf. Aber das Bewußtsein eines Menschen ist nicht wie Ton.
    Man sagte, daß man, in das heilige Chorhemd von Makna gekleidet, das Gift von Radna unbeschadet überstehen konnte. Ich wußte, daß Arain unter die Erde ging, manchmal, um die heiligen und geheimnisvollen Pflichten einer Oberin auszuführen, manchmal auch, um ihre Wißbegierde zu befriedigen. In diesen feuchten Gängen und Höhlen stand nur das Chorhemd von Makna zwischen ihr und dem Tod. Aber Radna war stark, und das Chorhemd

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