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Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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Kind gewesen. Sie hatte ihr ganzes Erwachsenenleben gebraucht, um zu vergessen, wie das gewesen war, und wenn sie es mit Kindern zu tun hatte, dann machte ihr all das, woran sie sich am liebsten nicht erinnern wollte, angst. Und dann erinnerte sie sich doch.
    Sie erinnerte sich an die große Villa, in der sie gewohnt hatten. Mutter, Vater, Schwester, Bruder. Hanne der Nachkömmling. Hanne, die Angst vor ihrem Zimmer hatte. Angst vor dem ganzen Haus, abgesehen vom Dachboden, wo sie sich zwischen den Hinterlassenschaften der Großeltern davonträumen konnte, sie konnte sich ein kleines Zuhause erschaffen, im Staub, zwischen Gegenständen, die niemand mehr brauchte und an die niemand mehr dachte. So, wie niemand sie brauchte oder an sie dachte.
    Hanne starrte das Jesuskind an und dachte an die Nächte. An eine Nacht, sie war frühzeitig in den ersten Stock hinaufgegangen, aber nicht auf ihr Zimmer. Wie so oft hatte sie sich auf den Dachboden geschlichen. Sie hatte den Koffer aus Amerika geöffnet und die Stoffe herausgezogen, die darin lagen. Sie aufgehängt, an Haken an der Decke, an schief eingeschlagenen Nägeln in Balken und Trägern. Der Dachboden wurde zum Theater, und Hanne verkleidete sich. Sie war damals vielleicht zehn. Sie spielte ein Schauspiel mit sich selbst in den dramatischen Hauptrollen, bis sie einschlief. Der Mond war durch die Dachluke gerade noch zu erkennen. Als sie erwachte, war sie steif gefroren, und es war schon hell. Niemand hatte sie gesucht. Niemand hatte sie geweckt oder sie ins Bett getragen, unter die Decke gelegt, in die Wärme, und sich vielleicht zu ihr gesetzt, damit sie nicht solche Angst hatte, nicht immer so schreckliche Angst.
    Die Augen des Vaters über dem Frühstückstisch: gleichgültig. Hanne ging in denselben Kleidern zur Schule, die sie am Vortag getragen hatte, in denen sie zwischen afrikanischen Masken und alten Fotoalben auf dem Dachboden eingeschlafen war, in den Armen ein ausgestopftes Hermelin.
    Als Erwachsene hatte sie dann begriffen, daß die anderen einfach davon ausgegangen waren, daß sie in ihrem Zimmer geschlafen hatte. Wahrscheinlich wären sie erschrocken gewesen, wenn sie die Wahrheit erfahren hätten.
    Aber niemand hatte nachgesehen.
    Niemand hatte nachgesehen, ob alles bei ihr in Ordnung war, ehe die anderen selbst schlafen gegangen waren. Hanne ging an diesem Tag nicht in die Schule. Sie ging zum Schreiner im Nachbarhaus, kochte sich Grütze und lernte den Umgang mit einem Winkeleisen. Als sie in Tränen ausbrach, weil sie nach Hause mußte, nahm der Schreiner sie auf den Schoß und wiegte sie hin und her, obwohl sie doch schon ein großes Mädchen war, bis sie sich beruhigt hatte. Er half ihr, eine Entschuldigung für die Schule zu fälschen.
    »Ich kann kein Kind bekommen«, sagte Hanne leise und setzte sich.
    »Kannst du nicht? Bist du … weißt du das?«
    »Nicht in der Hinsicht. Ich habe keine Ahnung, ob ich … fruchtbar bin. Nicht wirklich anzunehmen, in meinem Alter.«
    Sie lächelte hilflos.
    »Aber ich kann einfach keine Verantwortung für ein Kind übernehmen. Ich weiß nicht, wie eine Kindheit aussehen sollte. Ich weiß nur, wie sie nicht sein sollte.«
    »Das kann mehr als gut genug sein. Du bist lieb, Hanna, du bist …«
    »Ich bin ein beschädigter Mensch«, fiel Hanne ihr gelassen ins Wort. »Wenn wir die Umstände bedenken, habe ich mich vermutlich sogar wacker geschlagen. Aber in mir steckt Müll genug, um …«
    Sie schaute wachsam zur Tür hinüber, denn immer hatte sie diese Angst, daß andere es erfahren könnten, andere als Nefis, daß irgendwer von ihren Therapiestunden erfahren könnte.
    »… ein ganzes Leben lang mit Aufräumen beschäftigt zu bleiben«, endete sie.
    »Ein Kind ist ein Segen«, sagte Nefis. »Immer.«
    »Vielleicht für die Eltern«, sagte Hanne. »Aber ein Kind hätte es bei mir ganz einfach nicht gut. Nicht einmal, wenn du auch hier bist. Versteh das doch, Nefis. Du kennst mich so gut. Im Grunde stimmst du mir zu. Wenn du dir das genauer überlegst, dann gibst du mir recht.«
    Nefis schwieg. Ihr Glas war unberührt. Sie drehte es langsam im Kreis, während sie zusah, wie das Licht sich über der Tischplatte in rote Schattierungen aufteilte.
    »Ich gehe schlafen«, sagte Hanne. »Wenn es dir recht ist. Ich sehe schon doppelt.«
    Nefis gab keine Antwort, blieb aber sitzen. Sie hatte ihren Wein noch immer nicht angerührt.
    Als Hanne am Heiligen Abend aufstand, lag Nefis im Gästezimmer, und ihr Glas war

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