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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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fuhren jedes Jahr mit mir zum Boston Garden, wenn die Ringling Brothers in der Stadt waren, und zu behaupten, ich hätte den Zirkus geliebt, wäre noch untertrieben. In den Wochen vor der Vorstellung wachte ich mitten in der Nacht auf, atemlos von den vielen Saltos, meine Augen geblendet von Pailletten, meine Laken nach Tiger, Ponys und Bären riechend. Während der Vorstellung bemühte ich mich dann, möglichst nicht zu blinzeln, um ja nichts zu verpassen, da mir bewusst war, dass das Schauspiel so schnell vorbei sein würde, wie die Zuckerwatte in meinem Mund schmolz.
    In dem Jahr, in dem ich sieben war, war ich ganz fasziniert von dem Elefantenmädchen. Die Tochter des Zirkusdirektors stieg in einem Glitzerkostüm selbstsicher auf den Rüssel des riesigen Elefanten und kletterte ihn hinauf, so wie ich manchmal die Spielplatzrutsche hinaufkletterte. Dann setzte sie sich in sein Genick, die Schenkel um seinen dicken, stoppeligen Nacken gelegt, und starrte mich die ganze Zeit über an, während sie um die Manege herumritt. Wünschst du dir nicht, du wärst ich?, schien sie zu fragen.
    In diesem Jahr forderte meine Mutter mich wie jedes Jahr zehn Minuten vor der Pause auf, aufzustehen, damit wir auf der Toilette nicht anstehen mussten. Sie schleifte mich zur Damentoilette und zwängte uns zusammen in die Kabine. Dann stand sie vor mir, die Arme vor der Brust verschränkt wie ein Dschinn, während ich mich hinhockte, um Pipi zu machen. Wenn ich fertig war, sagte sie: »Und jetzt warte, bis ich fertig bin.«
    Meine Mutter sagt, ich wäre nie über die Straße gegangen, ohne ihre Hand zu nehmen, hätte nie nach dem heißen Herd gegriffen und nicht einmal als Kleinkind irgendwelche kleinen Gegenstände in den Mund gesteckt. Aber an jenem Tag schob ich mich unter der Toilettentür hindurch und lief weg.
    Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich weiß auch nicht mehr, wie ich an den Sicherheitsleuten in den grünen Mänteln vorbeigekommen und ins Wohnwagenlager gelangt bin. Natürlich weiß ich nicht mehr, dass der Direktor persönlich mich über Mikrophon hat ausrufen lassen, in der Hoffnung, dass ich mich melde, dass sich wie ein Lauffeuer herumsprach, dass ein kleines Mädchen verloren gegangen sei, dass meine Eltern die ganze Vorstellung über nach mir suchten. Ich habe keine Erinnerung mehr an das kreidebleiche Gesicht des Zirkusmitarbeiters, der mich schließlich fand und meinte, es sei ein Wunder, dass ich nicht zertrampelt oder aufgespießt worden sei. Und ich kann auch nicht nachempfinden, was in meinen Eltern vorgegangen sein muss, als sie mich zwischen den Stoßzähnen eines schlafenden Elefanten entdeckten, Stroh und Speichel im Haar, vom Rüssel wie vom Arm eines alten Freundes umschlungen.
    Ich weiß nicht, warum ich Ihnen das erzähle, außer vielleicht, um Ihnen vor Augen zu führen, dass Wunder sich ebenso vererben wie Augenfarbe und Statur.
     
    Das Elefantenmädchen ist erwachsen geworden. Natürlich kann ich nicht sicher sagen, ob es noch dieselbe ist, aber die Frau in dem Glitzerkostüm hat das gleiche rotgoldene Haar und den gleichen wissenden Blick wie das Mädchen aus meiner Erinnerung. Sie führt ein Elefantenbaby durch die Manege und wirft ihm einen roten Ball zu; sie verneigt sich mit ausholenden Gesten vor dem Publikum und lässt den Elefanten über ihre Schulter hinweg winken. Dann kommt ein Kind durch den Vorhang am Manegenausgang, ein kleines Mädchen, das jenem aus meiner Vergangenheit so ähnlich ist, dass ich mich frage, ob die Zeit unter der Zirkuskuppel stillsteht. Aber dann sehe ich zu, wie die Elefantenfrau dem Mädchen auf den kleinen Elefanten hilft und diesen um die Manege herumführt, und da weiß ich, dass sie Mutter und Tochter sind.
    Sie tauschen einen Blick, der mich veranlasst, zu Faith hinüberzusehen. Ihre Augen sind so glänzend, dass sich die Pailletten des Elefantenmädchen-Kostüms in ihnen spiegeln. Plötzlich ist der Clown von vorhin wieder da und winkt Faith, die nickt und klettert über die Absperrung in seine Arme. Sie winkt uns strahlend, als sie davonstakst, um an der Vorführung unmittelbar vor der Pause mitzuwirken. Meine Mutter rutscht auf Faith’ Platz. »Hast du das gesehen? O ich wusste ja, dass ich den Photoapparat hätte mitbringen sollen!«
    Dann, begleitet von gleißendem Scheinwerferlicht und dem Klang einer dröhnenden Stimme, marschieren die Artisten und Tiere in einer Parade um die drei Manegen. Ich halte Ausschau nach Faith. »Da drüben!«,

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