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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Rand der Decke. Wenn ich schon Colin nicht haben kann, denke ich, lass mir wenigstens sie.
    Mir war gar nicht klar, dass ich laut gesprochen habe, bis meine Mutter mit dem Kaffee an meine Seite tritt. »Mit wem redest du?« Ich erröte, verlegen, dabei ertappt worden zu sein, wie ich mit einer höheren Macht verhandle. Es ist ja nicht so, als würde ich an Gott glauben. Ich bin in keiner sehr religiösen Familie aufgewachsen, und als Erwachsener stehe ich dem Glauben mit einer gesunden Dosis Skepsis gegenüber - auch wenn ich offenbar den Drang verspüre, trotz aller Zweifel zu beten, wenn ich wirklich dringend Hilfe brauche. »Zu niemandem. Nur zu Faith.«
    Meine Mutter drückt mir den Kaffee in die Hand. Die Tasse ist so heiß, dass sie mir die Handfläche versengt, die noch brennt, lange nachdem ich das dampfende Getränk auf dem Nachttisch abgestellt habe. In diesem Moment blickt Faith blinzelnd zu mir auf. »Mami«, krächzt sie, und mein Herz tut einen Sprung: Ihre ersten Worte seit Wochen, und sie gelten mir.
     
    KAPITEL 2
     
    »Sicher glauben viele Menschen an Gott. Aber es haben auch viele Menschen geglaubt, die Erde sei eine Scheibe.«
    Ian Fletcher in The New York Times, 14. Juni 1998
     
    17. August 1999
     
    IAN FLETCHER STEHT mitten in der Hölle. Er marschiert in den Kulissen des neuen Sets herum, streicht mit der Hand über die Gasleitungen, aus denen Flammen schießen werden, und über gezackte Felsen. Er kratzt ein wenig mit dem Daumen daran und denkt, dass Schwefel gar nicht so toll ist, wie man immer sagt. »Viel zu gelb. Sieht aus wie ein Druidenkreis der Neuzeit.«
    Sein Bühnenbildner wirft einen Blick auf den Koproduzenten. »Ich glaube, Mr. Fletcher, das mit dem Feuer und Schwefel hatte etwas mit Geruch zu tun.«
    »Geruch?«, sagt Ian mit finsterer Miene. »Was soll denn das bitte heißen?«
    »Schwefel, Sir. Er stinkt, wenn man ihn verbrennt.« Ian funkelt den Bühnenbildner zornig an. »Verraten Sie mir doch bitte«, sagte er gefährlich leise, »was ein geruchlicher Spezialeffekt in einem visuellen Medium wie dem Fernsehen für einen Sinn machen soll.«
    Der Mann windet sich. »Ich weiß nicht, Mr. Fletcher, aber Sie …«
    »Ich was?«
    »Du wolltest Feuer und Schwefel haben, Ian.« Die Stimme kommt aus der Richtung des Gewirrs von Kameras und Mikrophonen zu seiner Linken. »Mach nicht andere für deine eigenen Fehler verantwortlich.«
    Beim Klang der Stimme des Producers seufzt Ian und fährt sich mit einer Hand durch das dicke schwarze Haar. »Weißt du, James, das Einzige, was mich glauben macht, dass es möglicherweise doch eine höhere Macht gibt, ist der Umstand, dass du immer im denkbar ungeeignetsten Augenblick auftauchst.«
    »Das hat nichts mit Gott zu tun, Ian, das ist Murphys Gesetz.« James Wilton tritt in den Schwefelkreis und blickt sich um. »Allerdings, wenn du die Religion für dich entdecktest, würde das sicher die Einschaltquoten in die Höhe schnellen lassen.« Er reicht Ian ein Fax mit den letzten Nielsen-Daten.
    »Mist«, brummt Ian. »Ich habe dir ja gleich gesagt, dass CBS nicht der richtige Sender ist. Wir sollten die Verhandlungen mit HBO wieder aufnehmen.«
    »HBO wird dich nicht mit der Kneifzange anpacken, solange du im unteren Drittel rangierst.« James bricht ein Stück Schwefel ab und hält es sich unter die Nase. »Das ist also Schwefel, ja? Ich habe ihn mir irgendwie immer als große schwarze Feuerstelle vorgestellt.«
    Ian lässt abwesend den Blick über das neue Bühnenbild schweifen. »Ja. Wir werden eine neue Kulisse entwerfen.«
    »Ach?«, bemerkt James trocken. »Sollen wir sie von deinem Riesenbonus aus deinem bevorstehenden Kontrakt mit Nike bezahlen. Oder von dem Riesen der Christlichen Koalition?«
    Ian kneift die Augen zusammen. »Du kannst dir deinen Zynismus sparen. Du weißt selbst, dass wir vor sechs Monaten mit den Specials einen unglaublichen Marktanteil zur Hauptsendezeit hatten.«
    James entfernt sich vom Set und überlässt es Ian, ihm zu folgen. »Das waren Specials. Vielleicht hat das den besonderen Reiz ausgemacht. Vielleicht muss eine Show, die wöchentlich ausgestrahlt wird, irgendwann den Reiz des Neuen verlieren.« Mit ernstem Gesicht wendet er sich Ian zu. »Mir gefällt das, was du machst, wirklich außerordentlich gut, Ian. Aber Programmleiter haben von Natur aus wenig Geduld. Und ich bin dafür zuständig, ihnen einen Gewinner zu präsentieren.« Er nimmt Ian das Fax aus der Hand und zerknüllt es. »Ich weiß, dass es

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