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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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gegen deine Natur geht… aber jetzt wäre der richtige Augenblick, mit Beten anzufangen.«
     
    Obgleich er schon von zahllosen Journalisten danach gefragt worden war, weigerte Ian Fletcher sich standhaft, über die Ereignisse in seinem Leben zu sprechen, die ihm den Glauben an Gott genommen hatten. Tatsächlich gab er nicht nur zu, als Ungläubiger geboren zu sein, sondern verdiente sogar sein Geld damit, die ganze Welt davon zu überzeugen, dass jeder als Ungläubiger geboren wurde und Glaube etwas war, das einem durch subtile Manipulation eingeimpft wurde - wie Kuhmilch zu trinken oder auf den Topf zu gehen -, weil es in der Gesellschaft zum guten Ton gehörte. Religion, behauptete er, sei ein bequemes Allheilmittel. Ians respektloser Vergleich von frommen Katholiken mit Kleinkindern, die glauben, das Pflaster würde ihre Wunde heilen, wurde auf den Leserseiten der New York Times, von Newsweek und in Meet the Press kontrovers debattiert. Er warf die Frage auf, warum Juden, die sich doch als das auserwählte Volk verstünden, immer noch Opfer religiöser Verfolgung wären. Er fragte, warum die Heilige Jungfrau nur Katholiken an irgendwelchen Quellen und im Morgennebel erschiene. Er fragte, wie es einen Gott geben könne, wenn unschuldige Kinder vergewaltigt, misshandelt und getötet wurden. Und je aggressiver er wurde, desto größer wurde seine Zuhörerschaft. 1997 führte sein Buch God Who? zwanzig Wochen lang die Sachbuch-Bestsellerliste der New York Times an. Er war zu Gast bei Steven Spielberg und wurde eingeladen, am runden Tisch des Weißen Hauses an Diskussionsrunden zu verschiedenen kulturellen Themen teilzunehmen. Im Juli war das People-Magazin mit Ian Fletcher auf der Titelseite innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden ausverkauft gewesen. Ein Vortrag im Central Park lockte mehr als hunderttausend Menschen an. Und im September 1998 trat Ian Fletcher dann mit Fernsehsendern in Verhandlungen und wurde zum ersten Femsehatheisten weltweit.
    Er gründete eine Gesellschaft - Pagan Productions -, griff Schlüsselthemen von den Reverends Billy Graham und Jerry Falwell auf und ging auf Sendung. Auf riesigen Bildschirmen hinter ihm wurden Bilder der Massenvernichtung gezeigt - Bomben, Landminen, Bürgerkriege -, während Ians mitreißende Stimme mit dem unverwechselbaren Südstaatenakzent die Existenz eines höheren wohlwollenden Wesens infrage stellte, das so etwas zuließ. Er gewann eine große Anhängerschaft und kultivierte seinen Ruf als Sprachrohr der Millenniums-Generation - jener zynischen Amerikaner, die weder Zeit noch Neigung besaßen, ihre Zukunft in Gottes Hände zu legen. Er war voreingenommen, taktlos und stur, was ihm die Sympathien der Zuschauer zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren einbrachte. Er war hochgebildet - er besaß einen Dr. Phil, in Theologie der Universität Harvard -, was die Babyboomer aufmerksam machte. Aber Ian Fletchers zweifellos gewichtigstes Attribut - jenes, das ihn bei Frauen jeden Alters beliebt machte und für den Bildschirm prädestinierte - war sein blendendes Aussehen.
     
    Zwei Stunden später stürmt Ian in das Büro seines Producers. »Ich hab’s!«, verkündet er, ohne auf James zu achten, der gerade telefoniert und ihm bedeutet, still zu sein. »Das ist perfekt. Das macht dich zu einem stinkreichen Mann.«
    Bei diesen Worten blickt James zu ihm auf. »Ich rufe zurück«, sagt er in den Hörer und legt auf. »Okay. Ich bin ganz Ohr. Wie lautet der große Plan?«
    Ians leuchtendblaue Augen strahlen, und seine Hände gestikulieren wild, seinen Enthusiasmus untermalend. Er entspricht ganz dem leidenschaftlichen, geistvollen Redner, der James ursprünglich als Stimme eines spirituell verlorenen Landes so fasziniert hat. »Was machst du, wenn du ein Fernsehprediger bist und deine Quoten sinken?«
    James denkt einen Moment darüber nach. »Du schläfst mit deiner Sekretärin oder wirst Erpresser.«
    Ian verdreht die Augen. »Falsch. Du gehst mit deiner Show auf Tournee.«
    »In einem Wohnmobil oder was?«
    »Warum nicht?«, entgegnet Ian. »Denk darüber nach, James. Um die Jahrhundertwende haben Prediger mit ländlichen Veranstaltungen ganze Glaubensgemeinschaften mobilisiert. Sie stellten mitten im Nirgendwo ein Zelt auf und ließen Wunder geschehen.«
    James kniff die Augen zusammen. »Ich kann mir dich schlecht in einem Zelt vorstellen, Ian. Deine Vorstellung von Bodenständigkeit entspricht eher dem Four Seasons als dem Plaza.«
    Ian zuckt die Achseln.

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