Die Wahrheit der letzten Stunde
ruft meine Mutter. »Huhuuuu! Faith!« Sie zeigt am Zirkusdirektor und dem Käfig mit den Tigern vorbei auf meine Tochter, die vor der Elefantenfrau auf einem riesigen Dickhäuter mit gewaltigen Stoßzähnen reitet.
Ich frage mich, ob andere Mütter auch innerlich ein Zwicken verspüren, wenn sie sehen, dass ihre Kinder sich zu Menschen entwickeln, die sie selbst gern gewesen wären. Die Scheinwerfer gleiten über das Publikum hinweg, und trotz des Jubels und des Fanfarengeschmetters kann ich hören, wie meine Mutter verstohlen in ihrer Handtasche ein Karamellbonbon aus dem Papier wickelt.
Ein dressierter Hund, den irgendetwas erschreckt hat, springt einem Clown in einem Reifrock vom Arm. Der Hund wieselt zwischen den Beinen des Direktors hindurch, über die Satinschleppe eines Trapezkünstlers und vor Faith’ Elefanten her, der trompetet und sich auf die Hinterbeine stellt.
Und wenn ich hundert werde, nie werde ich vergessen, wie lang Faith’ Sturz in die Sägespäne war, wie die Panik meine Trommelfelle anschwellen ließ und jeden anderen Laut ausblendete, wie der Clown, der sie geholt hatte, zu ihr eilte, dabei aber mit dem Jongleur zusammenstieß, dem die wirbelnden Messer aus der Hand fielen, deren blitzende Klingen meiner Tochter in den Rücken schnitten.
Faith liegt bewusstlos auf dem Bauch in einem Krankenhausbett des Mass General. Sie ist so klein, dass sie kaum die halbe Länge der Matratze einnimmt. Über eine Nadel in ihrem Arm bekommt sie eine Infusion, die eine Infektion verhindern soll, wie der Arzt mir erklärt hat, obwohl er diesbezüglich keine Befürchtungen hegt, weil die Schnittwunden nicht sehr tief sind. Aber immerhin tief genug, um mit zwanzig Stichen genäht werden zu müssen. Mein Kiefer ist so gespannt vom Zähnezusammenbeißen, dass mir ein Schauer über den Rücken läuft. Meine Mutter muss wissen, wie nah ich dran bin, die Fassung zu verlieren, da sie leise ein paar Worte mit der Krankenschwester wechselt, Faith über das Haar streicht und mich dann aus dem Zimmer zieht.
Wir reden kein Wort, bis wir an eine kleine Wäschekammer kommen, die meine Mutter für uns vereinnahmt. Sie drückt mich gegen eine Wand aus Laken und Handtüchern und zwingt mich, ihr in die Augen zu sehen. »Mariah, Faith ist okay. Sie wird wieder ganz gesund.«
Und da, einfach so, breche ich zusammen. »Es ist meine Schuld«, schluchze ich. »Ich konnte es nicht verhindern.« Ich spreche nicht aus, was meine Mutter meiner Meinung nach denken muss: dass ich nicht nur wegen der Messer weine, die Faith verletzt haben, sondern auch weil ich, nachdem Colin uns verlassen hat, in Depressionen verfallen bin, vielleicht sogar, weil ich mir Colin überhaupt erst zum Ehemann ausgesucht habe.
»Wenn überhaupt jemand Schuld hat, dann ich - ich habe die Eintrittskarten gekauft.« Sie drückt mich ganz fest. »Das ist keine Strafe. Das hat nichts zu tun mit Auge um Auge, Zahn um Zahn, Mariah. Du wirst das durchstehen. Das werdet ihr beide.« Dann hält sie mich auf Armeslänge von sich. »Habe ich dir schon einmal davon erzählt, wie ich dich beinahe getötet hätte? Wir waren Ski laufen, und du warst gerade mal sieben. Du bist aus dem Sessellift gefallen, als ich mit meinen Stöcken hantiert habe. Du hast sechs Meter über dem Boden gehangen, nur noch von meiner Hand gehalten, die ich in den Ärmel deines kleinen Mantels gekrallt hatte. Und das alles, weil ich einen Moment nicht aufgepasst habe.«
»Das ist nicht dasselbe. Das war ein Unfall.«
»Genau wie das hier«, sagt meine Mutter eindringlich.
Wir verlassen die Wäschekammer wieder und kehren zurück in Faith’ Zimmer. Worte, mit denen die Psychiater in Greenhaven mich beschrieben haben, wirbeln durch meinen Kopf: Zwanghaft und idealistisch, reagiert sehr empfindlich auf Zurückweisung, wenig Selbstvertrauen, eine Neigung, zu überkompensieren und zu dramatisieren. »Sie hätte jemand anders zur Mutter verdient. Jemanden, der sich auf so etwas versteht.«
Meine Mutter lacht. »Sie ist nicht ohne Grund deine Tochter, Liebes. Wart’s nur ab.« Dann sagt sie, dass sie Kaffee holen geht, und steuert die Tür an. »Nur weil andere Eltern gelassener sind, heißt das noch lange nicht, dass das richtig ist. Diejenigen, die die größte Angst haben, etwas falsch zu machen, sind diejenigen, die sich genug Gedanken machen, alles perfekt haben zu wollen.«
Seufzend fällt die Tür hinter ihr zu. Ich setze mich auf Faith’ Bett und streiche mit der Hand über den
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