Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
Vom Netzwerk:
Aphrodite – unter ihrem neuen lateinischen Namen Venus – den eigenen Sohn aus dem brennenden Troia. Aeneas möchte zwar – ganz wie Odysseus bei Kirke – im Bett der Karthagerin Dido verweilen, aber von Liebe halten Römergötter nichts. Also schreitet Vergil, Reichsdichter unter Kaiser Augustus, zur Rekursion oder Revision Homers. Die ersten sechs Gesänge der Aeneis fahren im Kielwasser der Odyssee von Troja nach Italien, das die sechs letzten Gesänge dann im Stil der Ilias erobern. Odysseus heißt nicht mehr homerisch Odysseus, sondern etruskisch, lateinisch und englisch Ulysses. Er ist auch kein Held mehr, sondern im Gegenteil ein listig-gemeiner Feind, der mit dem hölzernen Pferd eine erste Belagerungsmaschine erfand.
    Vergil weiß offenbar nur allzugut: Es waren keine archaischen Helden wie Aeneas, die nacheinander Unteritalien, Sizilien, Karthago und Griechenland in Schutt und Asche gelegt haben. Das taten ganz im Gegenteil hochtechnische Legionen, die ihre Maschinen jedoch allesamt – nicht viel anders als die USA – dem Feind abgelernt hatten. Maschine, lateinisch also machina , geht in Wort und Sache auf Archytas von Tarent (− 440 bis − 360) zurück, den letzten Pythagoreer Süditaliens. Archytas hat als Mathematiker und Ingenieur das Prinzip der griechischen Gitarre zum Katapult verallgemeinert und das der griechischen Oboe zum Rückstoßantrieb, also zur Rakete. Mit solchen nach Syrakus exportierten und dort erbeuteten Maschinen erobern die Legionen (in dieser Reihenfolge) Tarent, Karthago und Korinth, bis alles Schöne von der alten Welt vergeht. Aber ebendiese Katapulte und Ballisten müssen Hofdichter gekonnt verschweigen; sie tauchen in der Aeneis daher fast nur als kühne neue Metaphern auf, während alle Gleichnisse Vergils bei Homer gestohlen sind.
    Diese klammheimliche Übernahme heißt seitdem – mit Ernst Robert Curtius – »europäische Literatur«. Mit Dichtung – Sappho,Homer und Sophokles – haben solche Lesebücher nichts zu tun. Aeneas sucht die Unterwelt statt im fernsten Westen in Cumae bei Neapel, also in der Kolonie des Griechenalphabets. Er lauscht auch nicht seiner toten Mutter wie Odysseus, sondern hört als »frommer« Römer bereits auf den pater familias. Deshalb locken ihn auch weder Kirkes Stimme bei Gaeta noch der Sirenensang bei Capri. Wir wissen nur von einem einzigen lateinischen Gedicht, daß es gesungen wurde, nicht bloß vorgelesen.
    Die kumische Sibylle hat Aeneas und seiner Sippschaft bis Caesar und Augustus ja befohlen, nicht Sprache zu Musik zu machen, Erz und Stein zu Kunst – das bleibt ausdrücklich Griechen überlassen. Imperium, also Befehl und Reich der Römer heißt es ganz im Gegenteil, alle Völker zu verschonen, die sich unterwerfen, und alle, die das nicht tun, zu versklaven. Seitdem sind wir Subjekte, Untertanen, von Kaisern, Päpsten und Imperien wie den USA.
    Tu regere imperio populos, Romane, memento –
haec tibi erunt artes – pacique imponere morem,
parcere subiectis et debellare superbos (Aen. VI 851-853).
    Nur in einer Hinsicht muß sich Aeneas selber unterwerfen, nämlich sprachlich-medial. Sie erinnern sich: Einen von Odysseus’ oder Kirkes wilden Söhnen nannte Hesiod Latinos. Nach ihm heißt die Landschaft Latium, der Dialekt Latein. Hera, die sich daher Iuno nennt, gibt am guten Ende ihre Feindschaft gegen die Troianer auf, zwingt aber Iupiter, Aeneas, seinem Enkel, das hergebrachte und geliebte Griechisch zu verbieten. Der Held muß fortan – wie sein Dichter auch – die Sprache seiner Untertanen sprechen. Cicero hat ja im Streit mit Varro den erfolgreichen Entschluß gefasst, die griechischen Dichter und Denker derart ungenau zu übersetzen, daß sie in Vergessenheit geraten. »Glaubt mir, Römer, glaubt mir, Griechenschreiber – niemand übertrifft mehr als Vergil die Ilias!« dichtete geflissentlich Properz (II 34, 65 f.). Seitdem zerreißt uns alle in Eurasien eine große Kluft: da Ost-, hier Westeuropa, da Hellas, hier (mit Hesiod) Hesperien. Wir werden sie erst schließen können, wenn alle Europäer wieder fühlen, daß alles Gute, nämlich Einende, aus Griechenland herrührt.
    Also gut. Latein regiert im Westen, bald auch im Norden bis auf Skandinavien und Irland. Joyce wird Ulysses ins Rotlichtviertel Dublins schicken, als wären die Sirenen (wie schon für frommeRömer) Huren. Doch Roms Subjekte pflegen sich zu rächen. In ihren Mündern legt das Latein seine Grammatik ab und vergißt

Weitere Kostenlose Bücher