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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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es im Atlantik außer Walen auch Sirenen, die bis zum Nabel schöne Frauen sind, unterm Nabel aber Fische. Sie stinken überhaupt nicht wie bei Dante, wo sie Ulisse nur vom Weg abbringen (Purg. XIX 33). Gottfried von Straßburg ist Magister und weiß daher das ganze Gegenteil. Wann immer ihm das Wort gebricht, ruft er Apollon und die neun Sirenen an, um wieder selbst zu singen.
    mîne flêhe und mîne bete
die wil ich êrste senden
mit herzen und mit henden
hin wider zu Êlicône
zu dem niunvalten trône,
von dem die brunnen diezent,
ûz den die gâbe fliezent
der worte unde der sinne.
der wirt, die niun wirtinne,
Apollo und die Camênen,
der ôren niun Sirênen,
die dâ ze hove der gâben pflegent […] [5]
    Radikaler und das heißt unchristlicher ward im Mittelalter nie gedichtet. Musen und Sirenen werden eins. Die schönste unter ihnen allen, Musen und Sirenen, aber heißt Isolde selbst. Der Grund liegt klar zutage: Gottfried (ganz wie Dante) kennt seine Liebe seit der Kindheit und weiß daher, wie strahlend ihre Schönheit die Helena Homers verdunkelt. Wenn Isolde nur zur Harfe singt, gälisch oder auch französisch, vergehen den Männern Ohr und Herz – sie sinken wie Odysseus’ Schiff, weil Isolde als Magnetberg alle Eisennägel aus den Spanten zerrt. So machen Kompaßnadeln die Atlantikschiffahrt – den Seeraum zwischen Afrika und Irland – zugleich möglich und unmöglich. Odysseus, Tristan, Tantris und Isolde …
    Gut. Der Film, von Edison in Menlo Park erfunden, kommt 1895 über den Atlantik nach Paris. 1963 weigert sich ein junger Regisseur vor lauter nouvelle vague , Brigitte Bardot in ihrer ganzen Schönheit zu enthüllen, bis ihn ein alter weiser Mann, der alle Villen bei Amalfi kennt, zum Gegenteil bewegt. Jean-Luc Godarddarf zwar nicht wie Polanski in Carlo Pontis eigener Villa drehen, aber doch in der von Curzio Malaparte, die ebenfalls von Capri aus zur Insel der Sirenen blickt. Mussolini hatte nämlich seinem Hofdichter Ausnahmegenehmigung erteilt, im schönsten Naturschutzgebiet von Capri, vor den Felsnadeln der Faraglioni zu bauen. Übrigens beileibe nicht als erster. Lange vor dem Diktator ließ schon Kaiser Tiberius eine Villa errichten, die direkte Aussicht auf die Sireneninsel bot. Zum Entsetzen aller Griechenfeinde – um nur Augustus und Vergil zu nennen – verlegte Tiberius das Imperium von Rom nach Capri und legte dortselbst seinen geliebten Philologen zwei Fragen vor. Er wollte erstens wissen, ob Penelope vielleicht doch ihrem Gatten untreu war, was die Grammatiker bejahten. Und zweitens fragte er, quid Sirenes cantare sint solitae  – was die Sirenen wohl zu singen pflegten. (Suet. Tib. LII 3)
    Le Mépris gibt auf beide Fragen Antwort. Die Ehefrau wird zur Sirene, weil sie vor Capri oder Saint-Tropez als erste den Bikini fallen läßt. Die Sirene wird zum Filmstar – la B. B., wie sie ihr nacktes Fleisch besingen läßt. Also kann in Medienzeiten von ehelicher Treue keine Rede sein.
    Thomas Pynchon hat es mit Gravity’s Rainbow ein für allemal bewiesen: Männer, die erotisch aufgeputscht aus dunklen Kinosälen nachts nach Hause kommen, machen ja nicht ihrer Frau ein Kind. Schon Homers Sirenen sangen, daß Helden, deren schwarzes Schiff auf ihrer blumenreichen Insel lande, viel mehr Lust und Wissen mit nach Hause brächten. Man denke zurück – an Odysseus, Kirke und Kalypso!
    Aber man denke zugleich voraus: transatlantisch, wie wir leider leben müssen. Es gelingt dem Christentum zwar nicht, die Studios in Paris und Rom zu kontrollieren, aber doch in Hollywood. Dafür haben die USA seit 1934 eine Institution, die (streng nach Vergils Sibylle) Unterwürfige verschont und Hochmütige zu Fall bringt: die Federal Communications Commission. Spielfilme, sofern sie die Gewalt verherrlichen, belohnt das FCC mit sogenannter Jugendfreiheit, weil sie unterwerfend unterwürfig sind. Die Früchte sehen wir Tag und Nacht auf Deutschlands Straßen protzen. Filme, die auch nur den Ansatz einer Brustwarze enthüllen, verbannt das FCC dagegen in die Unterwelt, den Underground, weil Liebe oder Aphrodite – wieso, warum, seit wann? – anarchisch heißt (W. H. Auden). Niemand wagt seit Platon den vierzehnten Gesang der Ilias wortwörtlich auszulegen, niemand den achten in der Odyssee. So zieht, so schreibt, so filmt die Spur des Unheils sich durch die Jahrtausende: Ein und derselbe »Allmächtige«, mag er Iupiter, JHWH, Vater oder Allah heißen, hat trotz unendlich langen

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