Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
vollkommen, daß ihm Dichter wie Vergil nach griechischem Vorbild Längen und Kürzen angedichtet haben. Dann klingt es so:
Per me si va ne la citt’a dolente,
per me si va ne l’etterno dolore,
per me si va tra la perduta gente.
Giustizia mosse il mio alto fattore:
fecemi la divina podestate,
la somma sapienza e ’l primo amore.
(Inf. III 1-6)
Nun, wir könnten lange trefflich darüber streiten, ob es ein Werk göttlicher Allmacht, höchster Weisheit und erster Liebe war, ewige Höllenstrafen zu erfinden. Selber sprächen wir wohl eher von Macht, Diskurs und Begehren des Anderen. Aber so verkommen ist die aristotelische Ontotheologie nun einmal, seitdem Patristik und Scholastik sie zur Konkordanz mit zwei Testamenten verhalten haben. Dante Alighieri, ein kaisertreuer Flüchtling aus dem welfischen Florenz, liest jedenfalls die Inschrift überm Höllentor, als habe nicht er selber sie gedichtet. Erst im Vulgärlatein werden Silben nicht mehr ausgemessen, sondern als betont und unbetont geschieden. An die Stelle metrischer Füße treten daher, weil wir Barbaren sonst (wie Herr Jourdain) nur Prosa sprächen, seit der Spätantike Reime. Die translatio studii von den Griechen über Rom nach Nordeuropa kann beginnen.
Ich trennte mich von Kirke die mich wandte
Ein jahr schon bei Gaeta ab vom wege
Bevor Aeneas so den platz benannte.
Nicht Zärtlichkeit des sohnes nicht die pflege
Des greisen vaters nicht die schuldige liebe
Die in Penelope die freude rege:
Vermochte dass mein drängen unterbliebe
Wie ich mich über alle welt belehre
Der menschen tüchtigkeit und eitle triebe.
(Inf. XXVI 91-99) [4]
So hat Stefan George – traumwandlerisch genau – Stellen aus Dantes Göttlicher Komödie in deutsche Vokale und handschriftliche Unzialen übersetzt. Wer die Verse spricht, ist selbstredend Odysseus oder (italienischer) Ulisse, der im 26. Gesang des Inferno von seiner letzten Fahrt erzählt. Denn seitdem Vergils Aeneis – sehr anders als Homer – Ordnung in den Hades brachte, ist auch die Christen-Hölle topographisch streng gegliedert. Liebende wie Dido und Isolde leiden anders und in anderen Höllenringen als die Hinterlistigen, zu denen auch Odysseus mit der List des Holzpferds zählt. Deshalb muß Vergil, der Dante durchs Inferno führt, Odysseus erst in einer Höllenflamme erkennen, bevor der Held zu Wort kommt. Und deshalb muß Vergil Odysseus – historisch nur korrekt – aus dem Griechischen dolmetschen, bevor ihn Dantes Feder in moderne Reime bringen kann. Den Dichter der Aeneis als »größte unserer Musen« zu besingen (Par. XV 26) heißt eben umgekehrt, daß Dante Homers Griechisch gar nicht lesen kann. Die Höllenflamme wandelt sich daher zu einer Zunge, die – wie Verdammte überhaupt bei Dante – größte Nöte mit dem Sprechen hat. So mühsam wird aus Rauschen oder Zischen zum guten Ende Italienisch.
Dante erfährt also von einem Odysseus, dem die Aeneis tief vertraut ist, daß Vergil nicht seine ganze Geschichte erzählt hat. Denn statt von Kirkes Latium, dem Monte Circeo im Süden Roms, heim nach Ithaka zu fahren, hat Odysseus das undenkbar Verbotene gedacht und – wie in der Antike nur Karthager – den Raum des mare nostrum hinter sich gelassen. Die Göttliche Komödie spielt nämlich in der Osterwoche 1300; erst seit neun Jahren kann die christlich fromme Seefahrt die Straße von Gibraltar ungestraft und frei durchfahren. Dantes Ulisse ist der Erste, der die Araber nicht mehr fürchtet. Weil Menschen keine wilden Tiere sind – um von bezirzten Schweinen ganz zu schweigen –, segelt er an Sardinien, Spanien und Marokko kühn vorbei, erreicht die Weiten des Atlantik, wendet den Bug nach Süden, überquert vor Afrikas Westküste den Äquator – und alles nur, um heldenhaft zu scheitern. Er erblickt – in perspektivischer Verzeichnung, wie sie auch Wolframs tumben Parzival befällt – den höchsten Berg der Welt, aber nicht den Meereswirbel, der sein eigenes Schiff verschlingt. Im selben letzten Atemzug, den Odysseus beim Ertrinken tut, verstummt er auch in Dantes Hölle. Sein Geheimnis nimmt er also mit ins Grab. Denn erst im Purgatorio erfahren wir, die »Leser«, wie uns der Dichter nennt, daß dieser höchste Berg der Welt das Fegefeuer selber war.
Weiter als Ulisse wissen im hohen Mittelalter, das aus dem Orient die Kompaßnadel kennenlernt, nur Tristan und Isolde. Von Amalfi, wo der Kompaß aufkommt, kann man die Sireneninseln in der Sonne liegen sehen. Zudem gibt
Weitere Kostenlose Bücher