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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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als Tragisa oder Traisen firmierte, entstand die historisch erste Inschrift St. Pöltens: Der römische Vizestatthalter Marcus Aurelius Julius weihte Neptun, dem Herrn aller Wasser, einen Altar.
    So wortwörtlich kanalisiert die Adresse. Sie trennt Wildbächeund Wasserstraßen, Leute und Untertanen, Städte und Hauptstädte. Zumal unter hochtechnischen Bedingungen brauchen Hauptstädte ja kaum mehr gebaut zu werden; es reicht hin, sie zu adressieren. Paul Hindemith schrieb sein Lehrstück Wir bauen eine Stadt 1931 nicht für Maurer und Architekten, sondern für die Mittelwellen der Südwestdeutschen Rundfunk AG und näherhin für seinen Schwager, den Frankfurter Radiointendanten Hans Flesch (Schivelbusch).
    Hauptstadtgründung heute heißt einfach, daß an Autobahnkreuzen und Bahnhöfen, in Fahrplänen und Computernetzen eine neue »Zielspinne« entsteht, die den Fluß von Energien und Informationen zentriert. Noch in den zwanziger Jahren sollen mitteleuropäische Städte, um weiter träumen zu können, ihren Namen nur ungern auf Straßenverkehrsschildern gesehen haben. Auch »war es häufig noch so, daß eine Wegebauverwaltung Orte, die außerhalb der engeren Landesgrenzen lagen, gar nicht kannte, sie auf Wegeweisern deshalb nicht bezeichnete – manchmal sogar aus Absicht nicht« (Kaftan). Erst die strategische Erschließung von Raum überhaupt hat die Zielspinne ins technische Tierleben gesetzt und alle Kanäle nach Vorfahrtsrechten durchnumeriert. Auf Computerbussen sind es Tristate-Befehle, die Vorfahrtsregelungen zwischen »Herren« und »Sklaven« ermöglichen. Auf Landstraßen war es Napoleon, der den Rechtsverkehr einführte, das große Straßenchaos behob und den Marschkolonnen seiner selbständig operierenden Divisionen Nationalstraßen als Pappelreihen einräumte (McLuhan). Bis dann die Eisenbahn den (in Computerbegriffen) bidirektionalen Verkehr ganz einstellte und allen modernen Medien das Vorbild getrennter Fahrspuren gab. Seitdem heißen Treffen Entgleisungen und Passanten wirklich Vorbeifahrer.
    Nur ein vorerst noch idealer Mittelstreifen, der ab Februar 1916 f.anzösische Fußgänger, Fahrräder, Ochsenkarren usw. von einer pappelgesäumten Nationalstraße ausschloß, um statt dessen Munitionsnachschübe rechts und Leichenabtransporte links zu organisieren, rettete die belagerte Stadt Verdun vor der kaiserlichen »Blutmühle«. Eine improvisierte Erfindung des Feindes, dem Guderian als Panzerchef der Wehrmacht dann seine Autobahnen mit Mittelstreifen ablernte – den nächsten Weltkrieg im Auge. »Der Gegenstoß – als allgemeine Regel der Kriegskunst – geht nie vom Selben aufs Selbe. Vielmehr tritt gegen die Artillerie der Panzer an, gegen den Panzer der Raketenkampfhubschrauber, usw. Daher hatdie Kriegsmaschine einen Innovationsfaktor, der sich von den Innovationen der Arbeitsmaschine sehr abhebt« (Deleuze/Guattari).
    BEFEHLE, obwohl sie im Anglo-Amerikanisch der Computererfinder pädagogisch bescheiden Instruktionen heißen, sind wahrhaft Befehle. Eine Gleichung ohne Algorithmus, der ihre automatische Ausführung kommandiert, bliebe wie in historischen Zeiten der Findigkeit von Mathematikern überlassen. Aber die Datenverarbeitung läuft, erübrigt mithin das Genie oder den Chef.
    Denn in letzter Analyse heißt Befehlen schlicht Adressieren. Das gilt auf der untersten Ebene von Digitalrechnern, im sogenannten Microcode, wo die Patentkriege am härtesten sind; das gilt auf der untersten Ebene des Stadtalltags, wie Althusser ihn analysiert hat: Bürger ist, wen der »He! Sie da!«-Anruf eines Polizisten auf der Straße zum Stehenbleiben und Umdrehen bringt.
    Befehlszentren liegen also nicht, wo eine Macht den Wald ihrer höchsten Symbole aufpflanzt. Sie hausen in den viel unscheinbareren Senkrechten, wie jede Brücke sie über nichtplättbare Graphen schlägt.
    Mögen in Preußen erste Ministerien aus einem zentralen, ja Geheimen Rat hervorgegangen sein, die Bürokratien Kafkas und Österreichs wissen es besser. Die Zentralbehörden seit Kaiser Maximilians Zeiten entstanden beileibe nicht aus den adligen Organen der römisch-deutschen Reichshoheit. Es war eine rein technische Abwicklungsstelle für Österreich, die mit bürgerlichen Juristen an der Spitze als Hofkanzlei schrittweise zur Macht kam. Ihr folgten dann Hofkanzleien auch für Einzelländer, in deren hauptstädtischer Zielspinne Städte und Provinzen aufgingen (Hintze). Macht heißt demnach, Kanäle technischer Datenverarbeitung

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