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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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gebaut ist, ein solches Format fest. Die Eisenbahnhöfe, die (nach einem Wort Napoleons III.) in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den neuen Stadttoren aufstiegen, konnten die eben geschleiften Tore nicht so einfach umfunktionieren wie Joseph II. Österreichs Klöster. Stadttore waren Ein-/Ausgabestellen eines Postsystems gewesen,dessen Kutschen gleichermaßen Personen, Güter und Nachrichten beförderten, also Adressen, Daten und Befehle. Die Eisenbahn aber nahm der Post den Personen- und Güterverkehr nicht bloß ab, sondern gab ihm ein neues Modul oder Format: In der ersten Klasse mobilisierte sie Offiziere, in der zweiten Unteroffiziere und in der dritten die Mannschaften eines Bataillons (Hedin). Daß hieß dann in Benjamins euphemistischer Rede über »die geschichtliche Signatur der Eisenbahn«: Sie sei »das erste – und bis auf die großen Überseedampfer wohl auch das letzte – Verkehrsmittel, welches Massen formiert.«
    Aber es gibt auch Stadtverkehr und Automassen, die formiert oder formatiert sein wollen. Richard Euringer, der Vorsitzende des Nationalverbandes Deutscher Schriftsteller, hoffte zwar noch 1935, jene »Zusammenstöße, Beschädigungen, Verletzungen und Stockungen«, die aus »Freiheit der Selbstbewegung« oder Automobilität ja entspringen, durch Straßenverkehrsordnung und »Führerprinzip« regeln zu können. Ingenieure aber wissen es besser. Ein Computergatter heute, allen binären Mythen oder Horrorgeschichten zum Trotz, nimmt nicht zwei, sondern drei Schaltzustände ein: neben dem positiven Zustand 1 und dem negativen Zustand o noch einen Zustand hoher Impedanz, der die betreffende Datenquelle von ihrem Ausgangskanal isoliert und es damit erlaubt, ohne Kollisionen und nach einer kurzen Übergangszeit andere Datenquellen auf denselben Bus zu schalten. Der Zustand Gelb an jeder Straßeneckenampel tut nichts anderes. Im endlosen Wechsel von Grün, Gelb, Rot oder von Eins, Tristate, Null kommen alle Stadtverkehrsflüsse (vom Fußgänger bis zum Bus) auf buchstäblich digitales Datenformat, das ein Computer irgendwo im Stadtrechenzentrum auch noch getaktet hat. Und nur Beobachter aus Einflugschneisen oder Wolkenkratzern – wie Claude Lévi-Strauss in der Megalopolis New York – können hinter der Universalen Diskreten Straßenmaschine jenen analogen oder kontinuierlichen Fahrzeugfluß wiedererkennen, der einst Verkehr geheißen hat, mittlerweile aber Frequenz.
    ADRESSEN sind Daten, unter denen andere Daten überhaupt erst erscheinen können. Um einen Computerspeicher auf den Datenbus zu schalten, muß erstens der Adreßbus einen einzelnen Speicherplatz und zweitens der Befehlsbus den Speicher im ganzen adressiert haben. Medien sind immer nur so gut und schnell wieihre Verteilerschlüssel. Als Bücher noch antike Endlosrollen waren, ließen sich Stellen kaum nachschlagen. Und auch im Kodex mittelalterlicher Handschriften halfen die Blätterzahlen wenig, weil unterschiedliche Kopistenhände den Text unterschiedlich weit oder eng auf die Einzelexemplare verteilt hatten. Erst Gutenbergs Buchdruck sorgte dafür, daß »diese Seite hier tausend andern gleicht« (Enzensberger), also durch Index und Register in allen Exemplaren zu finden ist. Mit den Städten war es nicht anders. Erst Polizeipräfekten des Absolutismus (wie La Reynie in Paris) sorgten dafür, daß die handgemalten Zunftschilder an alten Häusern gleiches Format erhielten und schließlich vom Standort der Hausnummer abgelöst wurden. Von der Staatspost über das Selbstwahltelephon bis zum Autokennzeichen arbeiten Medien daran, die Leute durch ihre Adressen zu ersetzen.
    Stephan Daedalus, James Joyce’ fiktiver Doppelgänger, schrieb aufs Vorsatzblatt ausgerechnet seines Geographielehrbuchs:
    Stephan Daedalus
    Elementarklasse
    Clongowes Wood Schule
    Sallins
    Grafschaft Ildare
    Irland
    Europa
    Welt
    Universum
    Etwas prosaischer, aber nicht weniger spezifiziert, geben Partnersuchanzeigen die Telephonnummer und/oder den Raum eines Autokennzeichens an. Ob der Hörer auch abgenommen wird, ist zweitrangig. Und das mit gutem Grund. Denn auch beim Einschreibbrief einer Behörde reicht es juristisch völlig hin, wenn er im Briefkasten des 19. Jahrhunderts landet, selbst wenn sein Empfänger nachweislich nie zu Hause war. »The nymphs are departed, have left no addresses«, schrieb Eliot zwar von den Nymphen und ihren Freunden – aber Flußgottheiten sind selber Adressen. Ausgerechnet bei einer Regulierung des Nadelbachs, der indes

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