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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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(Deleuze/Guattari), der sie definiert. Sondern in Hauptstädten überlappen sich: Netze zwischen den Städten und Netze zwischen den Städten. In, auf und über der Erde verknotete Knoten spotten jeder Plättung. Mit Umsteigen und Umschalten vergeht die hauptstädtische Zeit. Pariser Leben von Offenbach (1866) war das erste Theaterstück, dessen erster Akt in einem Bahnhof spielte (Benjamin). In Wien verschaltete das kaiserliche Österreich das Kreuz seiner vier europäischen Aufmarsch-Eisenbahnen und ihrer Sackbahnhöfe mit einem Stadtbahnring, der seinerseits an Schmalspurbahnen und das Umland angeschlossen war. Die schiere Frequenz von Kreuzungsereignissen sorgt in Hauptstädten und Metropolen für jene Tyche, Fortuna oder Gelegenheit, die Valéry beim Erwachen in Paris zunächst wie ein unaufhörliches Meeresrauschen träumte, um sie dann als Bedingung aller glücklichen Zusammentreffen zu feiern. Ohne den gerollten Kopf des Königs gedacht, ist die Hauptstadt »Tochter der großen Zahl« (Valéry).
    Zur Berechnung, Speicherung und Übertragung von Zahlen gibt es aber MEDIEN. Eine griechische Stadt, vermutlich Milet, hat unsere ältesten Medien hervorgebracht: die Münze und das Vokalalphabet (Lohmann). Rom, um aus einer Stadt zum Staat zuwerden, übernahm das ausgebauteste aller orientalischen Übertragungsmedien: die Staatspost der Achämeniden (Innis).
    Weshalb unsere Begriffe für Medien, wenn sie nicht wie »Herz« oder »Gehirn einer Schaltung« vom Körper abgelesen sind, noch immer von der Stadt lernen. Seit der junge Shannon die Schaltalgebra George Booles mit ein paar Telegraphenrelais implementierte, heißen ihre logisch einfachsten Elemente, die noch kein Gedächtnis haben, Tore oder Gatter. Schaltwerke dagegen, deren Ausgang eine Funktion nicht nur der Gattereingänge, sondern auch der eigenen Vorgeschichte ist, setzen (nicht minder städtisch) eingebaute Speicher voraus. Als ferner John von Neumann, der Mathematiker des Zweiten Weltkrieges usw., dieses Prinzip sequentieller Abarbeitung oder Berechnung fast allen Computer-»Architekturen« von heute unterlegte, erhielten die Parallelkanäle zwischen Recheneinheiten, Toren und Speichern den schönen Namen Bus, der ja nur eine Ordnung des Großstadtverkehrs seit dem Biedermeier fortschreibt (Benjamin). Und seitdem schließlich nach von Neumanns exaktem Orakel nur noch Computer selber imstande sind, ihre eigene und klügere Nachfolgergeneration zu entwerfen, weil die Verwicklung der nötigen Netze über das Planungsvermögen selbst von Ingenieuren geht, gibt es Computerprogramme namens Routing: Netzwerkentwurf, wie bei Shannons Maus, läuft als Straßenbahnung (mit allen Problemen der Kreuzungsfreiheit und Mehrgeschossigkeit). Daraus entstehen ganze Städte von Silizium, Siliziumoxid und Golddraht. Ihre Zellen oder Häuser aber bemessen sich nach Molekülen, deren Gesamtfläche auch nach millionenfacher Wiederholung kaum über Quadratmillimeter hinausgeht. Technische Medien miniaturisierten die Stadt ganz so, wie sie sie auf die Entropie von Megalopolis vergrößern. Obsolet scheint nicht nur das altehrwürdige Modul Menschengröße, wie die Moderne es zum bekannten Leidwesen in Parkhäusern oder Flughäfen längst durch verkehrstechnische Moduln ersetzt hat, sondern Modularität überhaupt. Genau dem trägt die Graphentheorie Rechnung. Je mehr man eine Hauptstadt wie Paris denkt, schreibt Valéry, desto mehr weiß man sich von ihr gedacht. Kein System aber beherrscht sich selbst, auch die Stadt und das Modul nicht. Triftiger ist es darum, in einem grauen Feld ohne Maßstäbe Netze ohne Bewertung zu verschalten, Abschied zu nehmen von
    MUMFORDS ABSCHIED. »Dank ihrer Versammlung vonphysischer und kultureller Macht erhöhte die Stadt das Tempo menschlichen Verkehrs und übersetzte seine Erzeugnisse in Formen, die gespeichert und reproduziert werden konnten. Durch ihre Monumente, Schriftaufzeichnungen und geordneten Versammlungsbräuche erweiterte die Stadt den Umfang aller menschlichen Tätigkeiten, die sie vorwärts und rückwärts in die Zeit ausdehnte. Mittels ihrer Speichereinrichtungen (Gebäude, Gewölbe, Archive, Monumente, Schrifttafeln, Bücher) wurde die Stadt fähig, eine komplexe Kultur von Generation zu Generation zu überliefern, denn sie führte nicht nur die physischen Mittel zusammen, sondern auch die menschlichen Agenten, die zur Weitergabe und Erweiterung dieses Erbes nötig sind. Dies bleibt die größte unter allen Gaben der Stadt.

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