Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Symposion und dort vor allem auf Sokrates’ Abweisung der auf ihn gerichteten Begierde des schönen Alkibiades schwor der Aufsatz »Eros und Aphrodite« tatsächlich der Welt des Wissens ab, weil sie, so Kittler, »Rausch und Eros« nicht aufkommen läßt und Frauen ausschließt: »Am Ort des Wissens aber, das sokratische Dialoge produzieren, sind keine Frauen zugelassen. Selbst die Flötenspielerin ist vom Symposion ausgeschlossen und in die Hinterräume verbannt« (S. 338). Auf den letzten Seiten dieses Textes taucht wohl zum ersten Mal ein mythographisches Leitmotiv des späten Kittler auf, nämlich der Nektar-Rausch, die »Droge der Götter«, welche dem von Alkibiades vergebens induzierten Wein-Rausch überlegen und mit Philosophie vereinbar sein soll: »Die Philosophie, mit anderen Worten, macht alkoholische Räusche unmöglich, weil alle Weinvorräte Athens folgenlos in ihr verschwinden. Also bleibt nur ein einziger Rausch übrig, den sie gar nicht erst ignoriert: Nektar als Droge der Götter. Aus dem Körper des Eros, der ja im Nektarrausch von Aphrodites Geburt gezeugt wurde, saugen die Bienen neuen Honig und damit neuen Met« (S. 340-341).
Friedrich Kittlers hier anschließenden – schon auf das frühe 21. Jahrhundert datierten – Aufsätze zur Entstehung des altgriechischen Vokalalphabets in der Ursprungswelt der dem Homer zugeschriebenen Lieder sind, was die von ihnen markierte historisch-philologische Position angeht, seit ihrem Erscheinen immer wieder von offenbar kompetenten Altphilologen kritisiert worden – was den Autor genug irritierte, um ihn immer wieder zu unwirschen Gesten der Zurückweisung zu provozieren (aber nicht wirklich zu einer detaillierten Auseinandersetzung). Wer sein Werk allerdings im Blick auf das freigesetzte philosophische Potential liest, für den sind diese altphilologisch sachkompetenten Kritiken so – vergleichsweise – unwichtig wie Kritiken von Linguisten an Martin Heideggers philosophisch fast immer inspirierenden, aber historisch meist problematischen Spekulationen zur Etymologie einzelner griechischer oder deutscher Wörter. Denn jedenfalls erlaubt die Assoziation des Vokalalphabets mit Homer (vor allem mit dem Homer der Odyssee ) dem mythographischen Kittler, das »Anschreiben« der gesungenen Sprache als ein »Musengeschenk«zu feiern – und die griechische Schrift so in einen Zusammenhang mit der Faszination der Weiblichkeit, der Aphrodite und des Eros zu bringen. Die rhythmischen Strukturen der prosodischen Sprache und der Musik wiederum führen zur Mathematik und über die Mathematik zur Ontologie, also zu jener Einstellung, in der die Welt – philosophisch gesehen – zu einer Welt der Dinge wird: »Aus dieser Musiktheorie geht alles hervor, was seitdem Wissenschaft ist, vor allen Dingen die Wissenschaft von der ›physis‹, von der Natur […]. Der mathematische Grund dessen, was ist, ist diese Einheit der ganzen Zahlen, wie sie geometrisch-arithmetisch erscheinen« (S. 358).
Im Gegensatz zu jenem neuzeitlichen Gebrauch der Mathematik in den Naturwissenschaften, den Heidegger in »Die Zeit des Weltbildes« aus dem Jahr 1938 kritisierte, im Gegensatz zu jener Naturwissenschaft, für die Mathematik (im Sinne der »Vor-handenheit«, eines vor-den-Dingen-Stehens) zur Bedingung der Möglichkeit der »Darstellung«, das heißt: zur Bedingung der Möglichkeit eines »Bildes von der Welt« wird, geht es Kittler um eine Konzeption von der Welt der Gegenstände (es ist jene Konzeption, welche ich ›ontologisch‹ nenne), wo dem eigenen Körper die Welt der Dinge präsent und berührbar wird (»zu-handen«), weil er sich selbst als Teil dieser Welt (als »in-der-Welt-sein«) erlebt. Ohne seiner früheren Ontologie von der technischen Welt unserer Gegenwart als »Nacht der Substanz« direkt zu widersprechen, ist die Ontologie vom griechischen Ursprung der Naturwissenschaften eine Kontrast-Welt, die sich für den Mythographen Friedrich Kittler in Musik, Eros und Rausch – natürlich dem Nektar-Rausch – erfüllen soll: »Und das Wunder der Sirenen ist, daß sie auf der blumenreichsten Insel wohnen, einer Insel, die Odysseus wahrscheinlich auch betritt. Das heißt, Süßwasser ist da, das heißt, sie sind Nymphen, denn Nymphen sind Süßwassergottheiten, die verehrt man nicht im Tempel, sondern dort, wo keine archäologischen Befunde aus der Griechenzeit zu machen sind. Und deshalb gibt’s eben – wegen der Blumen und der Sirenen und dem
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