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Die Wahrheit des Blutes

Die Wahrheit des Blutes

Titel: Die Wahrheit des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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auf.
    Japan wurde zur Wahlheimat seiner Erwartungen, seiner Wünsche und seiner Hoffnungen. Jeder Wesenszug der ihm völlig neuartigen Welt rief in ihm eine weitere, bis dahin oft unbewusste Neugier hervor.
    Die Kultur erfüllte ihn mit ungeahntem Nachhall. Er fühlte sich zum Japaner geschaffen.
    Von Anfang an idealisierte er das Land und vermischte Fiktion mit Realität. Er genoss die außerordentliche Höflichkeit, die Sauberkeit der Straßen, der öffentlichen Anlagen und der Toiletten ebenso wie die raffinierten Speisen. Auch die strengen protokollarischen Regeln waren ihm nicht unangenehm. Neben solchen Alltäglichkeiten lenkte er sein Augenmerk auf längst verschwundene Traditionen wie den Ehrenkodex der Samurai, eine gewisse Faszination für den Freitod und die Schönheit der Frauen in der Ukiyo-e-Malerei.
    Alles andere blendete er aus. Den übertriebenen Materialismus, die Technikbesessenheit, die Abstumpfung eines Volkes, das zehn Stunden täglich arbeitete, und ein Gemeinwesen, in dem das Individuum keine Rolle spielte, wollte er nicht wahrhaben. Ebenso verschloss er sich der Ästhetik der Mangas, jener Leidenschaft für große, schwarze Augen, weil ihm selbst nur die Mandelaugen gefielen. Auch den allgemeinen Run auf technische Spielereien, die Pachinko-Hallen, die Sitcoms und die Videospiele, nahm er nicht wahr.
    Was Passan vor allem leugnete, war die Dekadenz des Inselstaats. Seit seiner ersten Reise hatte sich die Lage ständig verschlechtert. Auch in Japan machte sich die Wirtschaftskrise bemerkbar. Das Land war chronisch verschuldet, und es gab kaum mehr Arbeitsplätze für Jugendliche. Passan jedoch suchte nach wie vor in den Straßen nach Figuren wie Toshiro Mifune, dem Schwert tragenden Lieblingsschauspieler Kurosawas, und übersah dabei die femininen Androgynen, die Manga-Freaks und die kleinen Angestellten, die in der U-Bahn schliefen. Ganze Generationen hatten nicht etwa die Kraft ihrer Vorfahren geerbt, sondern litten unter einer erdrückenden allgemeinen Müdigkeit. Japan war zu einer Gesellschaft geworden, die sich – infiziert von westlicher Dekadenz – entspannte.
    Über die Jahre hinweg bewahrte sich Passan trotz seiner Ehe mit einer äußerst modernen Japanerin diesen Traum eines zeitlosen Japan, aus dem er Ruhe und Gleichgewicht schöpfte. Seltsamerweise hatte er sich nie mit japanischer Kampfkunst beschäftigt, sondern hielt sich lieber an die Verteidigungstechniken, die er auf der Polizeischule gelernt hatte. Auch die Methoden der Zen-Meditation hatte er nie begriffen, sondern sich lediglich eine Welt aus Disziplin und Ästhetik geschaffen, die ihm half, seinen Beruf auszuhalten. Für ihn war Japan eine Art gelobtes Land, wo er sich niederlassen wollte, wenn alle Stricke reißen sollten. Und wenn er nach einer Nacht wie der in Stains Ruhe finden wollte, gab es wenigstens noch die Ekloge von Ifukube und den melancholischen Blick Rentaro Takis.
    Bei diesem Gedanken öffnete Passan die Augen und suchte neben seinem Bett nach der Haiku-Sammlung. Beim Durchblättern stieß er auf die Worte, die er jetzt brauchte.
    Im Mondschein
    Verlass ich mein Boot,
    Um in den Himmel einzutauchen.
    Auf der Suche nach einem weiteren Gedicht blätterte er noch eine Seite um, doch im nächsten Augenblick war er eingeschlafen.

6
    Ungekämmt, zerknittert und noch nicht ganz wach stand Naoko auf der Schwelle zu Passans Räuberhöhle und beobachtete ihren Mann. Was sie sah, war ein Wrack. Allerdings nicht etwa in seiner Eigenschaft als Mann und schon gar nicht als Polizist – Passan war für sie der beste Polizist der Welt –, sondern das Wrack eines Ehemannes. Auf diesem Gebiet hatte er kläglich versagt. Sie konnte ihm deshalb nicht einmal böse sein, denn sie hatte ebenfalls einen Punkt erreicht, von dem aus es kein Zurück mehr gab.
    Immer wieder fragte sie sich, wie es überhaupt so weit hatte kommen können. Das ehemals strahlende Licht war erloschen. Ihre Liebe war verblichen wie Sonnenbräune im Winter, ohne dass sie es bemerkt hatten. Aber woher kam dieser dumpfe Hass, diese irritierende Gleichgültigkeit? Möglicherweise lag es an der Sexualität. Oder besser gesagt: an deren Mangel.
    Junge Mädchen in Tokio flüsterten sich gern eine magische Zahl zu. Es gab eine berühmte Umfrage, laut der die Franzosen ausnahmslos mindestens drei- bis viermal in der Woche miteinander schliefen. Eine derartige Frequenz rief bei Japanerinnen, die sich mit der matten Libido ihrer Männer abfinden mussten,

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