Die Wahrheit des Blutes
bergauf. Die Kuppe des Mont-Valérien erinnerte mit ihren weiten Rasenflächen an einen Golfplatz. Hier herrschte die Atmosphäre eines Hochplateaus. Symmetrische Linien, keine Erhebungen. Es gab ein Klärwerk samt einer sauberen, gepflegten Kanalisation, das Stadion Jean-Moulin mit seinen schnurgeraden Aschenbahnen, den amerikanischen Soldatenfriedhof mit endlosen Reihen weißer Kreuze.
Obwohl es nur sehr langsam hell wurde, war der Blick auf Paris beeindruckend. Es war vor allem die Entfernung, die Passan beruhigte. Nach und nach erloschen die Straßenlaternen. Die Ansammlung von Häusern und Wohntürmen, die dort unten verschwommen aus dem Regendunst ragten, dienten als Kulisse für das tragische Schauspiel eines primitiven Krieges. Ein Tal der Gewalt. Hier oben auf der Höhe fühlte Passan sich unverwundbar. Er war in seinem Refugium angekommen. In seiner Einsiedelei.
Vor dem Tor in der Rue Cluseret verlangsamte er die Fahrt und betätigte die Fernbedienung. Die Einfahrt in das Grundstück war immer wieder berauschend. Zunächst sah man nichts als einen weißen Klotz auf grünem Grund. Gemessen am Grundstücksdurchschnitt des Viertels hatte Passans Garten mit fast zweitausend Quadratmetern Rasen geradezu riesenhafte Ausmaße. Die Pflege war aufwendig, lohnte sich aber.
Ganz bewusst hatte er so gut wie nichts gepflanzt, sondern lediglich links im Schatten einiger Pinien einen kleinen Zen-Garten angelegt. Er lenkte den Wagen nach rechts und zog den Schlüssel. Die Villa besaß keine Garage, und er hatte die Stimmigkeit der Architektur nicht beeinträchtigen wollen. Das Gebäude stammte aus den 1920er-Jahren, war im Bauhausstil gehalten und hatte die Form eines Parallelepipeds mit Flachdach. Der Dachstuhl bestand aus Stahl. Pfeiler aus Eisenbeton stützten eine offene Galerie. Viele Fenster reihten sich aneinander. Das ganze Haus wirkte nüchtern, solide und funktional. Passan lächelte stolz.
Mit den Croissants in der Hand schloss er die Eingangstür auf und betrat den Windfang. Als er die Jacken von Shinji und Hiroki an der Garderobe hängen sah, ließ er in jede Tasche einen Chupa Chup gleiten. Eine kleine Überraschung von Papa. Ehe er das Wohnzimmer betrat, zog er die Schuhe aus.
Die Villa war vor allen Dingen ein Schnäppchen gewesen. Nach dem Tod von Jean-Paul Queyrau, dem letzten Nachkommen einer Familie von Kunsthändlern, wurde die Villa im März 2005 versteigert. Passan war einer der Ersten gewesen, die davon erfuhren, und zwar aus einem recht einfachen Grund: Er hatte als Kriminalbeamter nach dem Tod Queyraus ermittelt. Der hoch verschuldete Mann hatte seinem Leben mit einer Kugel ein Ende gesetzt.
Während seines Einsatzes hatte Passan sich in die Villa verliebt. Jedes einzelne Zimmer hatte er begutachtet, ohne sich an der Baufälligkeit des Ganzen zu stören. Der Erbe war in seinen letzten Jahren zum Penner geworden, der mehr schlecht als recht in seinen eigenen vier Wänden hauste. Passan hatte sich vorgestellt, was er aus diesen Räumen machen könnte.
Es war Naoko, die den Kauf schließlich ermöglicht hatte. Sie arbeitete damals seit einem Jahr bei einem Wirtschaftsprüfungsunternehmen, besaß Ersparnisse aus ihrer Zeit als Model, und ihre Eltern, die in Tokio Grundbesitz hatten, gaben den Rest dazu. Obwohl sie zum Erwerb der Villa deutlich mehr beigesteuert hatte als Passan, gehörte das Gebäude laut Notarvertrag ihnen beiden jeweils zur Hälfte. Im Gegenzug hatte Passan sich bereit erklärt, den größten Teil der anfallenden Arbeiten zu übernehmen.
Und daran hatte er sich gehalten. Für ihn war es eine Arbeit, die sozusagen die Fundamente seines Heims sicherte. Das Haus sollte Naokos und seine Liebe vor Angriffen von außen und vor Verschleiß und Eintönigkeit schützen. Leider hatte die Methode nicht funktioniert. Zwar hatte die Villa standgehalten, es aber nicht geschafft, Naoko und ihn zu behüten.
Passan ging in die Küche. Plötzlich wurde er so heftig angerempelt, dass er beinahe gestrauchelt wäre. Es war Diego, der ihn überschwänglich begrüßte. Diego, ein riesenhafter, grauer Pyrenäenberghund, hätte sich auf einer Weide bei einer Schafherde sicher wohler gefühlt. Als Naoko plante, einen Hund anzuschaffen, hatte Passan zunächst widersprochen. Ein Familienhund – das kam ihm so unendlich spießig vor. Aber inzwischen war Diego das Einzige in diesem Haus, worüber immer Einigkeit herrschte.
»Leise, Diego«, flüsterte Passan. »Du weckst noch alle auf.«
Er legte
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