Die Wahrheit des Blutes
neidvolle Begeisterung hervor. Sie hielten Frankreich für ein Eldorado der Romantik und ein erotisches Paradies.
Vor ihrer Übersiedlung nach Paris wusste Naoko noch nicht, wie eitel die Franzosen sein können. Inzwischen aber kannte sie sie nur allzu gut und konnte sich deutlich vorstellen, wie sie sich mit anzüglichem Schmunzeln ihrer imaginären Eroberungen rühmten.
Es war jetzt mindestens zwei Jahre her, dass Passan sie das letzte Mal berührt hatte. So lange war zwischen ihnen nichts mehr geschehen. Mattigkeit wurde zu Gereiztheit, dann zu Hass und schließlich zu einer Art asexueller Distanz, wie sie häufig zwischen Eheleuten vorkommt.
Ihre Freunde hatten dem Niedergang ungläubig zugeschaut. Olive und Naoko, das Traumpaar, die perfekte Liebesgeschichte, eine Verbindung über Grenzen hinweg. Sie galten als beispielhaft, erweckten manchmal den Neid der anderen, gaben aber auch Anlass zu Hoffnung. Doch dann hatten sich unerbittlich die ersten Makel gezeigt. Die Stimmen wurden lauter, man machte sich Vorwürfe, man war abwesend. Und schließlich mussten sie zugeben, dass es nicht mehr ging und dass sie über eine Scheidung nachdachten.
In ihrem Umfeld schob man den Schiffbruch auf die kulturellen Unterschiede. Dabei stimmte eigentlich das genaue Gegenteil: Die Unterschiede waren nicht groß genug gewesen, um sie vor der Langeweile zu bewahren.
Naoko hatte die Entwicklung der Katastrophe verfolgt wie eine Wissenschaftlerin. Über jede Etappe und jedes Detail hatte sie Buch geführt. Als sie sich kennenlernten, hatte sich Passan ihr zugewandt wie eine Sonnenblume der Sonne. Damals war sie sein Herzblut und sein Lebenslicht gewesen. Ihr Stolz kannte keine Grenzen, ihre Zufriedenheit ließ sie aufblühen. Später jedoch begann er, seinen Bedarf anders zu decken. Vielleicht auch nur in sich selbst. Er hatte zu seinem, wie er sich ausdrückte, Grundkonzept zurückgefunden – seiner Polizeiarbeit, seinem Patriotismus und später seinen Kindern. Aber auch, und das wusste Naoko, zu seinen Lastern, der Nacht und der Gewalt. In dieser schwarz-weißen Welt, die nur aus Siegern und Besiegten, aus Verbündeten und Feinden bestand, war kein Platz für sie.
Sie hatte geglaubt, nicht mehr tiefer sinken zu können. Aber sie täuschte sich. Im Lauf der Zeit wurde sie für ihren Ehemann zum Hindernis, zum Hemmnis für seine Freiheit. Was aber hätte er mit seiner Freiheit gemacht? War er nicht schon längst frei? Hätte sie ihn mit diesem Problem konfrontiert, hätte er vermutlich keine Antwort gewusst. Er selbst stellte sich solche Fragen nicht. Er lehnte es sogar ab, das Scheitern ihrer Beziehung zuzugeben, indem er sich weiterhin auf seinen Job und seine Arbeiten im Haus konzentrierte und seine Sorge um die Kinder fast etwas Zwanghaftes bekam. Er tat es mit zusammengebissenen Zähnen, ohne die Notrufe ihres Körpers wahrzunehmen. Ihr gegenüber gab er sich gereizt und manchmal sogar feindlich.
Im Gegenzug war auch sie unnahbar geworden, denn Liebe ernährt sich aus den Gefühlen des anderen. Ohne Übung vertrocknet das Herz. Man verlernt die Fähigkeit des Teilens, und irgendwann schützt man sich, indem man sich in die Einsamkeit zurückzieht.
Lautlos glitt Naoko in Passans Zimmer. Sie hatte ihn immer auf japanische Art bei seinem Familiennamen genannt. Sie zog die Vorhänge auf, schaltete die Musik aus und räumte das Buch fort. Ihren Ehemann beachtete sie dabei nicht – sie handelte lediglich als Hausfrau.
Als sie wieder nach oben ging und die Küche betrat, erblickte sie die Croissants im Brotkörbchen und den gedeckten Tisch. Unwillkürlich musste sie lächeln. Der Mörderjäger, der selbst schon getötet hatte, war manchmal auch ein Schutzengel.
Sie machte sich einen Kaffee und betrachtete zerstreut die Fotos an der Wand. Wie oft schon hatte sie sie gesehen? Heute nahm sie sie nicht einmal wahr. Vor ihren Augen zeichnete sich etwas ganz anderes ab.
Ihr einsames Schicksal. Ihre heimliche Suche.
Denn Naoko war immer allein gewesen.
7
Naoko Akutagawa war im Zeichen des Hasen geboren und hatte die ganz normale Hölle aller japanischen Kinder durchgestanden. Eine extrem strenge Erziehung: Schläge mit dem Gürtel, eisige Duschen sowie Schlaf- und Nahrungsentzug. Der reinste Horror.
Ihr Vater war Jahrgang 1944 und hatte die gleiche Behandlung erfahren. In Europa hätten manche warnend darauf hingewiesen, dass Gewalt sich fortsetzt und dass ein Kind, das geschlagen wird, später selbst oft seinen Nachwuchs
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