Die Wahrheit des Blutes
menschliche Gestalten. Eine lag am Boden, die andere, ganz in Schwarz, schwang ein Langschwert.
»NEIN!«
Die schwarze Gestalt wandte den Kopf. In diesem Moment teilte sich über ihr der Himmel, und ein Blitz zuckte durch die Wolken. Passan erkannte ihr Gesicht. Es war weiß, kalt und ausdruckslos wie ein Stein. Doch das Auffälligste war ihr Blick. Er war schwarz wie Kohle und schien vor Gift zu brennen.
Mit einem lauten Schrei stürzte er sich auf sie. Er besaß nichts als seine beiden Fäuste, doch der Bluff funktionierte. Ayumi drehte sich um und floh in den Wald wie ein verängstigtes Wild. Passan beugte sich über Naoko. Ihr Yukata war mit Blut befleckt. Unter dem nassen Stoff zeichneten sich ihre kleinen Brüste ab. Es war genau wie in Pré-Saint-Gervais, nur dass es hier keine Hilfe in der Nähe gab.
Vorsichtig wickelte er Naoko aus dem Yukata. Der Verband über der Wunde aus Paris triefte von Blut. Sie war während des Kampfes wieder aufgerissen und das Blut sah aus wie Siegellack. Es grenzte an ein Wunder, dass sie noch lebte. Oder hatte Ayumi nie die Absicht gehabt, sie wirklich zu töten?
Leise und beruhigend redete Passan auf Naoko ein. In einer Pfütze entdeckte er ein zerbrochenes Langschwert. Zwischen den Felsen steckte eine kürzere Waffe in einer Spalte. Der Kaiken fiel ihm ein. Er wühlte zwischen den Falten von Naokos Tunika und in den Taschen der Trainingshose. Da war er. Das Futteral aus Jackfruchtbaumholz. Der Elfenbeingriff.
Mit dem Dolch in der Hand erhob er sich. Naoko packte ihn an der Jacke, um ihn zurückzuhalten. Ihre Augen waren gerötet, ihre Lippen zitterten. Sie stammelte Worte, die er nicht verstand. Wollte sie ihn warnen?
Mit der linken Hand zog er sein Handy aus der Tasche, wählte die Nummer des Fischers und drückte Naoko das Telefon in die Hand.
»Das ist der Mann, der mich hergebracht hat«, flüsterte er. »Sag ihm, er soll kommen. Und er soll sich beeilen«, fügte er lauter hinzu.
Ohne Naokos Antwort abzuwarten, rannte er hinter Ayumi her zwischen den schwankenden Kiefern hindurch.
»Ayumi-san!«
Im Regen erlosch sein Ruf wie eine Kerze. Weit konnte er nicht sehen. Gerade wollte er erneut rufen, als er eine Schneise erreichte. Plötzlich sah er den Himmel. Ein Gewitter rollte erbarmungslos auf die Insel zu. Ein Stück weiter unten gurgelte ein gemächlicher Fluss. Jenseits davon erstreckte sich eine mehrere Hundert Meter lange Insel, die wie ein kieloben liegendes Schiffswrack aussah.
Passan war sich ziemlich sicher, dass Ayumi sich dort versteckte.
Er lief den Hügel hinunter und stieg in das lauwarme Wasser. Es war nicht sehr tief – er brauchte nicht einmal zu schwimmen. Auf der anderen Seite angekommen, steckte er den Kaiken in den Gürtel und zog sich an dichten Grasbüscheln die Böschung hinauf. Oben entdeckte er einen von Schilf gesäumten Weg, der sich am Ufer entlangzog. Er schüttelte sich und richtete sich auf.
Ayumi stand fünf Meter von ihm entfernt auf dem Pfad und schwang ihre Waffe. Ihre Haltung erinnerte Passan an die unzähligen japanischen Schwertkampffilme, die er in seinem Leben gesehen hatte. Unwillkürlich musste er lächeln. Nun würde er tatsächlich so sterben, wie er es sich in seinen verrücktesten Fantasien ausgemalt hatte.
Der Kaiken in seinem Gürtel fiel ihm wieder ein. Was aber konnte er damit gegen ein Schwert ausrichten, das fast einen Meter lang war? Er warf sich ins Gebüsch und rollte unter Lianen hinweg über Blättern und Nadeln fast zehn Meter weiter, ohne sich umzudrehen und ohne aufzustehen. Nur das Prasseln des Regens und das Pfeifen der Schwertklinge waren zu hören. Hinter ihm. Die Klinge war da. Schnell und tödlich. Sie maunzte, stöhnte, seufzte … Und sie rief nach ihm.
Schließlich kroch er aus dem Gebüsch, strauchelte und fiel hin. Sofort warf er sich herum. Ayumi packte ihren Katana wie einen Pfahl, um ihn mitten in sein Herz zu treiben. Passan ließ sich abrollen. Er spürte, wie die Erde unter ihm nachgab, ehe er im lauen Wasser des Flusses versank.
Mit den Beinen stieß er sich ab. Nur weg vom Ufer! Er kämpfte gegen die Strömung an, drehte sich mit dem Gesicht nach oben, bemühte sich aber, vollständig unter Wasser zu bleiben. Jetzt musste er nur noch die Luft anhalten, bis er aus Ayumis Reichweite war. Ob sie ihm ins Wasser folgen würde? Er glaubte es nicht.
Als seine Lungen schon zu platzen drohten, hob er endlich den Kopf. Sofort spürte er den Luftzug der Klinge. Er war nicht weit genug
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