Die Wahrheit des Blutes
hinzu, als wolle er sich selbst überzeugen. »Es ist eine gängige Lösung.«
Fifi entledigte sich ebenfalls seines Bechers.
»Ich halte das für eine ziemlich blöde Idee. Es wird noch so weit kommen, dass die beiden euch in ihrem Haus empfangen. Ihr werdet so etwas wie Touristen unter eurem eigenen Dach sein.«
Passan zuckte zusammen. Seit Wochen schon dachte er über diese Entscheidung nach und versuchte sich einzureden, dass sie für alle Beteiligten die beste Lösung war. Mögliche Einwände ließ er einfach außen vor.
»Entweder so, oder ich wohne einfach weiter in meinem Keller.«
Seit einem halben Jahr hauste er im Untergeschoss der Villa. Die Kellerfenster gingen auf den Garten hinaus, und er versteckte sich dort wie in einem Bunker.
»Und dann?«, fragte Fifi. »Willst du etwa deine Weiber mit nach Hause nehmen? Damit Naoko ihre Höschen im Bett findet? Wird sie in dem Bett dann überhaupt noch schlafen wollen?«
»Wir fangen heute Abend mit dem abwechselnden Wohnen an«, sagte Passan, um die Diskussion abzukürzen. »Naoko übernimmt diese Woche. Und ich verziehe mich in das Appartement, das ich in Puteaux gemietet habe.«
Der Punker schüttelte skeptisch den Kopf.
»Und was ist mit dir und Aurélie?«, konterte Passan.
Fifi lachte und drückte erneut auf den Kaffeeknopf.
»Vorgestern ist sie beim Vögeln glatt eingeschlafen.«
Er griff nach dem Becher und pustete auf die heiße Brühe.
»Das ist doch sicher ein gutes Zeichen, oder?«
Beide mussten lachen. Alles war besser, als sich an die Spur des Entsetzens zu erinnern, die der Geburtshelfer hinter sich gelassen hatte.
4
Zerstreut lauschte Passan den Nachrichten im Radio. Er war auf dem Weg nach Suresnes, wo er die letzten Stunden vor seinem Umzug nach Puteaux verbringen würde. Er wusste noch nicht genau, ob er schlafen, Umzugskisten packen oder seinen Bericht schreiben würde. Was die Schlagzeilen anging, war dieser Montag, der 20. Juni 2011, nicht unbedingt bemerkenswert. Es gab eine einzige Nachricht, die Passans Aufmerksamkeit erregte: Ein geschiedener Mann war in den Hungerstreik getreten, um gegen den von seiner Ehefrau geforderten Unterhalt zu protestieren. Bei dieser Vorstellung musste er unwillkürlich lächeln.
Mit Naoko würde es diese Art Problem gar nicht erst geben. Sie hatten sich auf einen gemeinsamen Anwalt, gemeinsames Sorgerecht und keine Abfindung geeinigt. Naoko verdiente deutlich mehr als er. Es gab nur einen Besitz, der aufgeteilt werden musste. Die Villa.
Passan fädelte sich auf dem Quai de Dion-Bouton in Richtung der Brücke von Suresnes ein. Zwar war ihm kalt, aber er weigerte sich, die Heizung einzuschalten. Immerhin war es Juni, zum Teufel! Das Wetter ging ihm auf die Nerven – diese nicht enden wollende, graue und feuchte Kühle, die so gar nichts mit einem schönen Frühsommer zu tun hatte und seinem Rücken zu schaffen machte!
Von Nanterre aus hätte er den Mont-Valérien auch über Stadtstraßen erreichen können, aber er brauchte jetzt Weite. Himmel und Fluss unter der aufgehenden Sonne. In Wirklichkeit allerdings sah er nicht viel davon. Ein Stück weiter unten zu seiner Linken lag die Seine, die Bäume rechts verbargen die Stadt, und der Himmel über ihm war grau und nass wie ein voller Schwamm. Er hätte sich überall und nirgends befinden können.
Plötzlich kehrte die Erinnerung daran zurück, wie er den Fuß auf Guillards Brust gepresst hatte und bereit gewesen war, seinen Kopf von einem Sattelschlepper zermalmen zu lassen. Eines Tages würde man vielleicht die Tür einer Gefängniszelle schließen, und er befände sich nicht auf der richtigen Seite. Seine Scheidung war einer der letzten Vorgänge, die ihm noch eine normale Existenz vorgaukelten – und dabei ging es um eine Trennung.
Er ordnete sich rechts ein, fuhr den Boulevard Henri-Seller entlang und bog in die Avenue Charles-de-Gaulle in Richtung des Mont-Valérien ab. Je höher er kam, desto vertrauter wurde die Umgebung. Häuser, die sich an den Hang schmiegten. Mit Efeu bewachsene Mauern. Cafés, die allmählich öffneten.
Passan hielt vor einer Bäckerei, die bereits hell erleuchtet war, und kaufte Croissants, ein Baguette und zwei Chupa Chups. Wieder überkam ihn ein Gefühl von Unwirklichkeit. Welchen Zusammenhang gab es zwischen den harmlosen Abläufen hier und dem Albtraum von Stains? Konnte er sich einfach so mit einem Fingerschnipsen wieder in die normale Welt einfügen?
Er stieg wieder in sein Auto. Es ging weiter
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