Die Wahrheit eines Augenblicks
als eine gute Idee!
Cecilia fluchte erneut und rieb sich den Kopf. Es tat richtig weh. Sie sah sich die Schuhkartons genauer an und stellte fest, dass sie alle mit den Steuerjahren der 1980er datiert waren. Cecilia begann, die vielen Quittungen zurück in einen der Kartons zu stopfen, als ihr plötzlich ihr eigener Name auf einem weißen Geschäftskuvert ins Auge fiel.
Sie nahm es hoch und erkannte John-Pauls Handschrift:
Für meine Gattin Cecilia Fitzpatrick
Nur im Falle meines Todes zu öffnen
Cecilia lachte laut und verstummte dann jäh – so, wie wenn man auf einer Party über etwas lacht und dann im nächsten Moment merkt, dass es gar kein Witz war, sondern tod ernst gemeint.
Sie las noch einmal: Für meine Gattin Cecilia Fitzpatrick . Und merkwürdigerweise spürte sie, nur ganz kurz, wie ihre Wangen zu glühen begannen, als wäre sie peinlich berührt. Seinetwegen? Oder ihretwegen? Sie war sich nicht sicher. Es war ein Gefühl, als wäre sie zufällig auf irgendetwas Blamables gestoßen, als hätte sie ihn beim Onanieren in der Dusche ertappt. (So wie Miriam Openheimer, die ihren Dough einmal genau dabei erwischt hatte. Es war Miriam so dermaßen peinlich, dass nun alle davon wussten, denn als sie irgendwann ihr zweites Glas Champagner intus gehabt hatte, waren die kleinen Geheimnisse nur so aus ihr herausgesprudelt; und wenn man einmal davon wusste, war es unmöglich, es wieder vergessen zu machen.)
Was stand drin ? Sie überlegte, das Kuvert kurzerhand aufzureißen, ohne groß nachzudenken, so wie sie sich manchmal (nicht sehr oft) den letzten Keks oder das letzte Schokoladenstückchen in den Mund stopfte, bevor sich ihr schlechtes Gewissen überhaupt melden konnte.
Da klingelte wieder das Telefon. Cecilia hatte ihre Armbanduhr nicht um und schien plötzlich jedes Zeitgefühl verloren zu haben.
Sie warf die restlichen Zettel zurück in einen der Schuhkartons, nahm Mauerstein und Brief und stieg wieder hinunter.
Kaum unten angekommen, wurde sie vom schnellen Strom ihres Lebens erfasst und fortgerissen. Eine große Tupperware-Bestellung musste ausgeliefert werden, die Mädchen mussten von der Schule abgeholt werden, der Fisch für das Abendessen musste eingekauft werden (wenn John-Paul beruflich unterwegs und nicht zu Hause war, aßen sie viel Fisch, denn er mochte keinen), und sie musste alle möglichen Leute zurückrufen. Der Gemeindepfarrer, Pater Joe, hatte angerufen, um sie daran zu erinnern, dass Schwester Ursulas Beerdigung für den folgenden Tag anberaumt war. Er hatte wohl Sorge, dass nicht genug Trauergäste kommen könnten. Cecilia würde natürlich hingehen. Sie legte John-Pauls geheimnisvollen Brief oben auf den Kühlschrank und gab Esther kurz vor dem Abendessen das Stückchen der Berliner Mauer.
»Danke.« Esther nahm den kleinen Stein mit rührender Ehrfurcht entgegen. »Aus welchem Teil der Mauer stammt er denn genau?«
»Aus der Nähe von Checkpoint Charlie, glaube ich«, antwortete Cecilia und klang ziemlich überzeugt. Sie hatte keine Ahnung.
Aber ich kann dir sagen, dass der Junge mit den Eiswürfeln ein rotes T-Shirt und weiße Jeans anhatte und dass er meinen Pferdeschwanz hochhielt und ihn »sehr hübsch« fand .
»Ist er viel wert?«, fragte Polly.
»Glaube ich nicht«, mischte sich Isabel ein. »Woher will man denn wissen, dass er tatsächlich aus der Mauer stammt? Sieht doch aus wie ein gewöhnlicher Stein.«
» DMA -Tests«, sagte Polly. Das Kind sah eindeutig zu viel fern.
»Es heißt DNA , nicht DMA , und findet sich beim Menschen«, erklärte Esther.
» Weiß ich ja!« Polly war auf die Welt gekommen, empört darüber, dass ihre Schwestern schon vor ihr da waren.
»Ja, warum sagst du dann …«
»Was glaubt ihr, wer heute Abend The Biggest Loser gestrichen bekommt?«, fragte Cecilia und dachte im Stillen: Wer auch immer mein irdisches Tun beobachten mag, jawohl, ich wechsele das Thema von einem faszinierenden und lehrreichen Stück Zeitgeschichte zu einer billigen und absolut gehaltlosen TV -Show, doch Hauptsache, alles bleibt friedlich, und sie tanzen mir nicht auf der Nase herum . Wäre John-Paul da gewesen, hätte sie das Thema wahrscheinlich nicht gewechselt. Sie war eine weitaus bessere Mutter, wenn sie schalten und walten konnte, wie sie es für richtig hielt.
Und so ging das Abendessen dahin, während die Mädchen munter plauderten und Cecilia tat, als hörte sie interessiert zu, in Wirklichkeit aber die ganze Zeit an den Brief auf dem Kühlschrank
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