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Die Wahrheit eines Augenblicks

Die Wahrheit eines Augenblicks

Titel: Die Wahrheit eines Augenblicks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liane Moriarty
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hatte, wusste sie stets ganz genau, wo jedes einzelne Teilchen in ihrem Alltagsleben hingehörte und welches wo als Nächstes dran war.
    Gut, vielleicht war das Leben, das Cecilia führte, einigermaßen gewöhnlich und unspektakulär. Sie war im Elternbeirat der Schule und Tupperware-Beraterin in Teilzeit, also keine Schauspielerin, keine Versicherungsfachfrau oder … gar eine Dichterin in Vermont. (Cecilia hatte unlängst erfahren, dass Liz Brogan, eine Klassenkameradin aus der Highschool, nun als preisgekrönte Dichterin in Vermont lebte. Ausgerechnet Liz, die Käse-Marmeladen-Brötchen aß und ständig ihre Busfahrkarte verlor. Cecilia musste sich schwer am Riemen reißen, um das nicht überaus ärgerlich zu finden. Nicht, dass sie selbst auch Gedichte schreiben wollte. Aber trotzdem. Man hätte meinen wollen, wenn überhaupt jemand einmal ein gewöhnliches Leben führen würde, dann Liz Brogan.) Gewiss, Cecilia hatte nie nach irgendetwas anderem gestrebt als nach dem Gewöhnlichen. Das also ist aus mir geworden: eine typische Vorstadt-Mutti . Sie ertappte sich selbst manchmal bei diesem resignierten Gedanken – als hätte sie jemals etwas anderes sein wollen, etwas Besseres.
    Andere Mütter sprachen davon, wie schwer sie sich oft taten, sich auf nur eine Sache zu konzentrieren. »Wie schaffst du das alles bloß, Cecilia?«, fragten sie ständig. Doch das wusste Cecilia auch nicht. Und eigentlich wusste sie auch gar nicht, was daran so schwer sein sollte.
    Aber nun, mit diesem dämlichen Brief, schien alles irgendwie aus dem Lot geraten zu sein. Mit Logik war dieses Gefühl nicht zu erklären.
    Doch vielleicht hatte es mit dem Brief gar nichts zu tun. Vielleicht lag es an den Hormonen. Laut ihrem Arzt, Dr. McArthur, war sie »möglicherweise in der Perimenopause«. (»Oh, nein, bin ich nicht!«, war Cecilias spontane Reaktion gewesen, als hätte man sie beleidigt.)
    Vielleicht war es eine Art unbestimmtes Angstgefühl, das, wie sie wusste, manche Frauen erlebten. Die anderen . Angstvolle Menschen hatte sie schon immer putzig gefunden. So wie Sarah Sacks; sie war so ein kleiner Angsthase, so einer, dem man am liebsten die ganze Zeit über den angstgeplagten Kopf streicheln würde.
    Vielleicht sollte sie den Brief einfach öffnen, um zu sehen, dass es nichts weiter damit auf sich hatte. Dann würde sie auch den Kopf wieder frei bekommen. Sie hatte schließlich jede Menge zu tun. Zwei Körbe voll mit Wäsche, die zusammengelegt werden wollte. Drei Telefonate, die dringend erledigt werden mussten. Und dann waren bis morgen noch glutenfreie Teilchen zu backen für diejenigen Mitglieder der Projektgruppe »Schul-Webseite«, die unter einer Glutenintoleranz litten (wie etwa Janine Davidson).
    Es gab jede Menge andere Dinge außer diesem Brief, die sie bange machen konnten.
    Sex zum Beispiel. Diese Sache spukte ihr immer irgendwo im Hinterkopf herum.
    Sie zog die Stirn in Falten und strich mit den Händen über ihre Taille. Über ihre »schrägen Muskeln«, wie ihr Pilates-Lehrer sagte. Aber, was soll’s – Sex war nichts . Nach Sex stand ihr jetzt wirklich nicht der Sinn. Sie sträubte sich gar, überhaupt einen Gedanken daran zuzulassen. Völlig unerheblich.
    Vielleicht stimmte es ja, dass sie seit jenem Morgen im vergangenen Jahr ein unterschwelliges Gefühl der Unsicherheit verspürte, die bewusste Einsicht, dass es im Nu vorbei sein konnte mit dem Leben zwischen Gewürzkoriander und Wäsche, mit dem ganz gewöhnlichen Alltag, dass man plötzlich eine Frau sein kann, die niederkniet, die die Augen gen Himmel dreht, während ein paar andere Frauen zu Hilfe eilen und andere sich abwenden mit stummen Blicken, aus denen dennoch Worte sprachen: »Bloß nicht an sich ranlassen!«
    Cecilia sah dieses Bild zum x-ten Mal vor ihrem geistigen Auge: den fliegenden, kleinen Spiderman. Und sie war eine der Frauen, die zu Hilfe geeilt waren. Klar, was sonst? Sie hatte die Autotür aufgerissen, obgleich sie gewusst hatte, dass sie nichts ausrichten konnte. Sie war hier nicht in ihrem Viertel, nicht in ihrer Pfarrgemeinde, nicht in ihrem Schulbezirk. Keines ihrer Kinder hatte je mit dem kleinen Spiderman gespielt. Und mit der Frau auf Knien hatte sie nichts zu tun, hatte sie nie zum Kaffeekränzchen getroffen. Cecilia hatte nur zufällig in ihrem Wagen an der Ampel auf der anderen Seite der Kreuzung gestanden, als es passierte. Ein kleiner Junge, so um die fünf Jahre alt, in einem Spiderman-Kostüm, stand wartend an der Hand

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