Die Wahrheit eines Augenblicks
dass, hätte Janie ihren Arzttermin an jenem verhängnisvollen Tag 1984 nicht vergessen, der Arzt nach Schilderung der Symptome, der Musterung ihrer ungewöhnlich hochgewachsenen Statur und einer gründlichen Untersuchung ihres langen, dünnen Körpers zu einer vorläufigen Diagnose gekommen wäre: Marfan-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine unheilbare, genetisch bedingte Mutation des Bindegewebes, unter der auch Abraham Lincoln gelitten haben soll und deren typisches Krankheitsbild sich in überlangen Gliedmaßen, langen, dünnen Fingern und Händen sowie in Komplikationen des Herz- und Gefäßsystems zeigt. Zu den weiteren Symptomen gehören Müdigkeit, Kurzatmigkeit, Herzrasen sowie kalte Hände und Füße infolge schlechter Durchblutung, die Janie allesamt an ihrem Todestag zu spüren bekam. Es ist eine Erbkrankheit, unter der wohl auch Rachels Tante Petra gelitten hatte, die mit zwanzig plötzlich tot umfiel. Und der Arzt, der dank einer übertrieben bildungs- und leistungsorientierten Mutter heute eine Koryphäe auf seinem Gebiet und ein hervorragender Mediziner ist, hätte kurzerhand zum Telefon gegriffen und für Janie einen dringenden Termin im Krankenhaus vereinbart. Dort hätte sie eine Ultraschalluntersuchung bekommen, die den ärztlichen Verdacht bestätigt hätte, und Janies Leben wäre gerettet worden.
John-Paul wird nie erfahren, dass Janie an einem Aortenaneurysma starb, nicht an einem Erstickungstrauma. Er wird nie erfahren, dass der Gerichtsmediziner wohl nicht so bereitwillig der Bitte der Crowley-Familie entsprochen und nur eine Teil-Obduktion durchgeführt hätte, wäre er nicht ausgerechnet an jenem Tag an einer kräftezehrenden Grippe erkrankt gewesen. Ein Pathologe hätte eine vollständige Obduktion angeordnet, eine Aortendissektion durchgeführt und ganz klar die wahre Ursache für Janies Tod entdeckt.
Jedes andere Mädchen außer Janie hätte die sieben bis vierzehn Sekunden in John-Pauls Würgegriff überlebt (denn so lange brauchte es, bis John-Paul begriff, was er da tat, und losließ). Es wäre getaumelt, hätte nach Luft gerungen, wäre tränenüberströmt davongerannt, taub gegen seine Rufe der Entschuldigung. Ein anderes Mädchen hätte John-Paul bei der Polizei angezeigt, er wäre wegen Körperverletzung angezeigt worden, und sein Leben hätte eine komplett andere Richtung genommen.
John-Paul wird nie erfahren, dass Janie, wäre sie an jenem Nachmittag zum Arzt gegangen, noch am selben Abend einer dringenden, lebensrettenden Operation unterzogen worden wäre. Und während sich ihr Herz langsam wieder erholt hätte, hätte sie John-Paul angerufen und ihm das seinige am Telefon gebrochen. Sie hätte Connor Whitby viel zu jung geheiratet und sich zehn Tage nach ihrem zweiten Hochzeitstag wieder von ihm scheiden lassen.
Nicht einmal sechs Monate später hätte Janie John-Paul Fitzpatrick auf einer Einweihungsparty in Lane Cove zufällig wiedergesehen, nur wenige Augenblicke, bevor Cecilia Bell durch die Tür kam.
Niemand von uns wird je erfahren, welche möglichen Wendungen unser Leben hätte nehmen können und möglicherweise hätte nehmen sollen. So oder so. Einige Geheimnisse sind bestimmt, für immer geheim zu bleiben. Fragen Sie doch mal Pandora.
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