Die Wahrheit stirbt zuletzt
sie und blickt auf ihre Zigarette. »Es nimmt Vater sehr mit. Er versucht, es zu verbergen, aber es gelingt ihm nicht. Es würde auch merkwürdig wirken, wenn du im Hotel wohnst.«
»Das ist vermutlich das eigentliche Problem.«
»Hör auf, so verbittert zu sein, Magnus. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür.« Sie sieht zu Boden, und er folgt ihrem Blick. Das Gras ist gelb und verbrannt, und als könnte sie seine Gedanken lesen, versucht sie möglichst beiläufig, die Verlegenheit zu überspielen, von der ihre Begegnung bisher geprägt ist – eine Begegnung, die nicht so abgelaufen ist, wie man sich ein Wiedersehen nach so langer Zeit eigentlich vorstellt. »Wir haben wirklich fantastisches Erntewetter gehabt«, sagt sie.
Er lächelt und ergreift wieder sanft ihre Hand: »Okay, Schwesterherz. Schauen wir mal.«
Sie lächelt zurück, etwas angestrengt: »Okay! Was soll das denn jetzt? Kannst du kein Dänisch mehr?«
»Okay ist so etwas wie alright, nur ein bisschen anders.«
»Alright. Wie amerikanisch du klingst. Ich dachte, du bist die meiste Zeit in Argentinien gewesen.«
»Zwei Jahre in den Staaten, gut drei Jahre in Argentinien. Es ist so schön, dich wiederzusehen«, sagt er.
»Ich freue mich auch. Sehr sogar. Ich habe dich vermisst. Vier Briefe in fünf Jahren, Magnus. Behandelt man seine Familie so? Mads war am Boden zerstört, als du weggegangen bist. Du hast sein Herz in tausend Stücke geschlagen.«
»Ich konnte nicht anders.«
»Trotzdem«, erwidert sie nur und lässt seine Hand los,sieht sich um und wirft ihren Zigarettenstummel weg, bevor sie anmutig in ihren praktischen, flachen Schuhen mit den breiten Schnallen auf dem Absatz kehrtmacht und zum Beckenrand hinunterruft, dass der Bus in einer halben Stunde abfahre. Ihre Stimme ist durchdringend trotz ihres Lächelns. Er sieht, wie die Patienten mittleren Alters beinahe synchron die Hand heben zum Zeichen, dass sie den Befehl vernommen haben. Das Geräusch spritzenden Wassers und ein übertriebener Schrei unten vom Quellbecken dringen zu ihnen herauf und vermischen sich mit dem plötzlichen Weinen eines Kindes, das sich erschreckt hat.
Sie dreht sich um und fragt: »Wie ist Argentinien? Wie ist die große weite Welt? Wird man vom Reisen so ansehnlich? Du bist ja ein richtiger Herr geworden. Du musst so viel zu erzählen haben.«
Er lacht über sie und mit ihr, und es kommt ihm vor, als wärme die Sonne sie auf einmal auf eine andere Weise, und die Stimmen der Badenden erscheinen ihm heller und fröhlicher, weil er sehen kann, dass sie ebenfalls froh ist. Froh, dass er zurückgekommen ist. Froh, dass sie nicht mehr allein ist. Froh, weil er ihr immer geholfen und ihre Partei ergriffen hat. Er zerstört diese Stimmung, indem er sagt: »Warum ist er weggegangen?«
»Nicht jetzt.«
»Und dann auch noch in den Krieg. Ausgerechnet er. Mads konnte doch keiner Fliege etwas zuleide tun. Er hat Gedichte geschrieben und war so empfindsam und hat so schnell angefangen zu weinen. Kannst du dich nicht daran erinnern? Er hat so gelitten, wenn in der Familie oder in der Schule auch nur das kleinste bisschen Sorge oder Angst herrschte. Das ergibt alles keinen Sinn. So sehr verändert ein Mensch sich nicht in so kurzer Zeit.«
»Wir müssen über all das und vieles andere sprechen, aber nicht hier. Ich bin für die Patienten verantwortlich.Ich kann jetzt nicht darüber nachdenken.« Ihre Stimme wird immer leiser, aber es ist zu spät, sie wendet sich ab und senkt den Kopf.
Er dreht sie zu sich um und zieht sie an sich. Sie wehrt sich erst ein wenig, gibt dann aber rasch nach, und er umarmt sie, spürt ihre Tränen. Sie verbirgt ihr Gesicht an seiner Schulter. Er sieht das Schwimmbecken weiter unten, wo die Patienten erstaunt und ein wenig erschreckt zu ihrer kleinen Florence Nightingale hinüberschauen, die ihnen den Rücken zugewandt hat und von einem fremden Mann umarmt wird. Der korpulente Mann in dem dunklen Ganzkörperbadeanzug macht Anstalten, aus dem Becken zu klettern und zu ihnen zu eilen, aber Magnus winkt ab, indem er ein paar Mal den Hut schwenkt und ihm und den anderen ein beruhigendes Lächeln zuwirft, das signalisieren soll, dass alles in Ordnung ist.
Marie windet sich los, schluchzt noch einmal kurz und wischt sich dann die Tränen mit einem weißen Taschentuch ab, das sie in ihrer Rocktasche stecken hat. Sie putzt sich die Nase, und aus der anderen Rocktasche zieht sie einen Umschlag, den sie ihm wortlos reicht. Magnus spürt
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