Die Wahrheit stirbt zuletzt
Zeit.«
Sie hat eine helle Stimme. Bei Familienfeierlichkeiten oder in der Kirche bittet man sie meist zu singen, aber sie tut es ungern. Oder tat es ungern? Was weiß er schon von ihr? Innerhalb von fünf Jahren hat er vier Briefe von ihr bekommen, Briefe voller Alltäglichkeiten, abgesehen von dem letzten, in dem sie ihre Verzweiflung und Hilflosigkeit nicht verbergen konnte oder wollte. Das war kein gewöhnlicher Brief, sondern ein Hilferuf. Er trägt ihn bei sich, spürt ihn in der Innentasche seines Sakkos brennen. Er holt sein Zigarettenetui hervor und reicht ihr eine Zigarette, nimmt sich ebenfalls eine und gibt ihnen beiden Feuer. Sie raucht ein wenig unsicher,findet er, aber sie atmet den Rauch trotz allem geübt bis tief in die Lungen ein und schließt einen Moment lang genussvoll die Augen. Ein Krümel Tabak klebt an ihrer Lippe.
Sie tritt einen Schritt zurück und schaut ihn mit ihrem Große-Schwester-Blick an: »Virginia, nicht wahr?«
Er nickt.
»Du bist ein richtiger Mann geworden, kleiner Bruder. Du siehst so erwachsen aus.« Sie lächelt mädchenhaft und berührt mit einer vorsichtigen Handbewegung seinen Schnurrbart.
Er lächelt ebenfalls und nimmt ihre Hand in seine. »Du siehst aus wie immer.«
Sie zieht ihre Hand zurück und nimmt einen Zug von der Zigarette, bevor sie sagt: »Wie gesagt. Es gibt vieles, was du nicht von mir weißt. Hast du schon mit Vater gesprochen?«
»Noch nicht. Der Herr Chefarzt ist mit seinen Patienten beschäftigt. Ich habe Fräulein Jørgensen getroffen.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Der Herr Chefarzt ist mit seinen Patienten beschäftigt«, wiederholt er und fährt fort: »Und er ist in Begleitung eines Doktor Krause, glaube ich.«
»Ach ja. Vaters kleiner Nationalsozialist aus Hamburg.«
»Hat der Herr Chefarzt tatsächlich eine politische Haltung gefunden, die seiner Mentalität entspricht?«
»Komm, Bruder, lass uns nicht wieder damit anfangen«, sagt sie schärfer, als sie es wohl beabsichtigt hat, und um den Missklang zu beseitigen, nimmt sie ihm scherzend den Hut vom Kopf: »Hut ab vor deiner Schwester. Und nein, Vater und Fräulein Jørgensen interessieren sich nur sehr für Doktor Krauses Theorien über rassebedingte Krankheitsverläufe. Für die stärkere Widerstandskraft, die einige Rassen gegenüber bestimmten Krankheiten aufweisen und andere nicht. Das mit den Rassen ist ja ein ganzgroßes Thema da unten im Süden. Hast du auf deinen Reisen nichts davon mitbekommen?«
Er lächelt, als er ihren ironischen Unterton bemerkt, und sagt: »Doch. In anderen Ländern gibt es auch Zeitungen. Das Stampfen der vorrückenden Stiefel in Deutschland ist auch auf der anderen Seite des Atlantiks vernommen worden.«
»Wann bist du gekommen?«, fragt sie.
Die Sonne brennt auf sein kurz geschnittenes Haar mit dem akkurat gezogenen Scheitel. Ihre Augen sind grünlicher als die blauen Augen von Magnus. Mads hat dieselbe Augenfarbe und dasselbe dunkelblonde Haar wie seine Schwester, ein Erbe der Mutter, während Magnus’ Haare heller sind, so wie die des Vaters, bevor die Mutter erkrankte und starb. Das Haar des Chefarztes war in weniger als einem Jahr vollkommen weiß geworden. Marie hat gleichmäßige Züge, einen schmalen, wohlgeformten Mund und sehr weiße Zähne, und sie lächelt oft und gern, so, wie sie es jetzt tut, aber das Lächeln erlischt schnell, als er sagt: »Gestern. Ich wohne im Dania.«
»Es ist besser, du ziehst zu uns nach Hause. Du hättest anrufen können. Wir hätten gestern schon miteinander sprechen können. Ich habe so lange auf dich gewartet.« Noch immer hält sie seinen Hut in der Hand, und sie reicht ihn ihm ein wenig verwirrt.
»Wir werden sehen«, sagt er und folgt ihrem Blick, der zu den badenden Menschen hinübergleitet, die zu ahnen scheinen, dass sie gerade den letzten Sommertag erleben.
Es gibt so viele ungesagte Worte zwischen Bruder und Schwester. Wir stammen aus einer Familie, in der die entscheidenden Dinge nie zur Sprache kommen, weil wir es nicht wagen, einander die Wahrheit zu sagen, denkt er. Nur Mads ist anders, war schon immer anders. Er hat gesagt, was er dachte, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Die Kälte, die ihr Zuhause seit dem Tod der Muttergeprägt hat, hat seine Seele nicht erstarren lassen, aber wie mag es ihm in den letzten fünf Jahren ergangen sein? Im Alter zwischen sechzehn und einundzwanzig Jahren kann ein junger Mann sich sehr verändern.
»Am besten, du ziehst nach Hause«, wiederholt
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