Die Wahrheit stirbt zuletzt
lass uns in den Speisewagen gehen und frühstücken, während du mir mehr von deinem alten Mekka Moskau erzählst. Vielleicht kannst du mir auch ein bisschen Russisch beibringen. Nur für den Hausgebrauch. Guten Tag. Auf Wiedersehen. Und: Ich liebe dich.«
»Gut so, Magnus. Wenn du lächelst, siehst du gleich viel besser aus.«
27
A uf dem Bahnsteig, unter dem gewölbten Dach wimmelt es von Menschen. Die große Lokomotive steht nach ihrer langen Reise da wie ein altes, müdes Pferd und schnaubt. Der Lokomotivführer lehnt sich aus dem Fenster und raucht eine der dicken schwarzen Zigaretten, die Magnus noch aus Spanien kennt und die Svend sich unbedingt besorgen will. Zwei Kohlenschaufler, deren Gesichter schwärzer sind als die Lokomotive selbst, stehen zwischen der Lokomotive und dem Kohlenwagen und rauchen ebenfalls, während sie den Passagieren zusehen, die sich in einem dichten Strom auf das Bahnhofsgebäude zubewegen – ein großes grünes Gebäude mit vielen Türmchen und Spitzen und allen möglichen Verzierungen und Ornamenten. Im Schnee strahlt es wie neu.
Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig steigen die Leute in einen langen Zug, der sich zur Abfahrt bereit macht. Vorne an der Lokomotive sind ein großer roter Stern und Hammer und Sichel angebracht. Dicker Rauch steigt aus dem Schornstein auf, als könnte die Maschine es kaum erwarten, loszufahren. Für einen Moment würde Magnus am liebsten einsteigen und in Richtung Westen zurückfahren, weil ihm seine Mission so unvorhersehbar und unmöglich erscheint.
Ein Gepäckbursche, der einen Karren mit zwei großen Rädern vor sich herschiebt, bietet ihnen seine Dienste an, und sie überlassen ihm ihr Gepäck. Es riecht nach Kohle und bitterer Kälte, einer besonderen Note, von der Magnus nicht weiß, wo sie herkommt, die aber in der Moskauer Luft schwebt und sich als Geschmack auf derZunge festsetzt. Der Himmel ist bleigrau, und die Wolken sehen aus, als würden sie gleich auf die Häuserreihen und die Fahrbahnen stürzen und alles unter sich begraben.
Sie fahren mit einer schwarzen Autodroschke in Richtung Hotel. Die Straßen sind sehr breit, und es herrscht nur wenig Verkehr, aber trotz des Wetters wimmelt es nur so von Fußgängern. Sie sind in dicke Mäntel, Tücher und Pelzmützen gehüllt. Überall sind Gruppen von Frauen damit beschäftigt, den Schnee von den Gehwegen und Fahrbahnen zu räumen. Sie benutzen große Harken und Schaufeln und lustige kleine Bastbesen, mit denen sie die letzten feinen Schneeflocken wegfegen.
Die wenigen Cafés und Restaurants, an denen sie vorbeikommen, sind gut besucht. Vor einigen Geschäften haben sich kurze Schlangen gebildet, aber er kann nicht erkennen, was dort verkauft wird. Die Häuser wirken massiv und verschlossen. An den Dachvorsprüngen hängen dicke Eiszapfen. Die Straßenbahnen rumpeln über die Bahnschwellen hinweg, und immer wieder leuchten Schaltfunken an den Oberleitungen auf. Magnus bemerkt, dass es meistens Frauen sind, die die Straßenbahnen und Busse fahren. Sie tragen große Tücher oder Strickmützen auf dem Kopf.
Sie verlassen den Leningradski Prospekt und setzen ihre Fahrt auf einem breiten Boulevard fort, auf dem es teure Boutiquen, Restaurants und Cafés gibt. Svend erzählt ihm, dass die Gorki-Straße eine der wichtigsten Einkaufsstraßen in Moskau sei. Die Häuser sind hier besonders imposant mit Verzierungen an den Dachvorsprüngen und hohen Fenstern, durch die die beiden im Vorüberfahren in die stuckverzierten Wohnräume hineinschauen können.
Schließlich deutet Svend auf ein großes Gebäude und erklärt, dort seien die Komintern und die Kameraden untergebracht, und Magnus meint, eine Sehnsucht nach den guten alten Zeiten in seiner Stimme zu hören.
»Es heißt Hotel Lux«, sagt er. »Es ist nicht besonders luxuriös, aber man wohnt dort angenehm, in schönen großen Zimmern, und auf jedem Flur gibt es ein Bad und eine Gemeinschaftsküche und unten ein großes Restaurant, in dem man günstig essen kann. Ich habe dort gewohnt, als ich an der Internationalen Lenin-Schule meine Ausbildung gemacht habe. Ich habe dort viele schöne Stunden verbracht.«
Magnus sieht ihn an und erwartet eine Fortsetzung, aber Svend schaut weg. Das Hotel Lux ist groß, und zu beiden Seiten des Eingangs stehen Säulen. Vor dem Eingangsportal drängen sich die Menschen, dazwischen ein Portier.
Der Chauffeur hält alle fünf Minuten an, um den Schnee von der Windschutzscheibe zu entfernen. Es gibt
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