Die Wahrheit stirbt zuletzt
offensichtlich keine Scheibenwischer. Magnus ist froh über seine Handschuhe und seine gefütterte Mütze; trotzdem spürt er die beißende Kälte an seinem Körper und an den Ohren. Er muss zusehen, dass er sich eine von diesen Schapkas besorgt, die hier alle tragen. Svend hat seine alte Schapka mitgebracht, die er mit hochgebundenen Ohrenklappen auf seinem Kopf platziert hat.
Der erste Eindruck, den Moskau auf Magnus macht, ist überwältigend. Er ist sich auf einmal gar nicht mehr sicher, was er eigentlich in der Sowjetunion will, obwohl er sich natürlich alles genau zurechtgelegt hat.
Sein Plan läuft darauf hinaus, vor Ort zu sein, wenn der Schauprozess, wie Brodersen das Gerichtsverfahren konsequent genannt hatte, gegen Irinas Vater und Bruder in einigen Tagen beginnt, sofern man sich auf die Angaben in den deutschen Zeitungen verlassen kann. Dann will er weitersehen. Er hat auch überlegt, Irina aufzusuchen, aber er kennt ihre genaue Adresse nicht, und da er fest davon ausgeht, dass sie beim Prozess zugegen sein wird, will er dort mit ihr Kontakt aufnehmen. Svend meint, sie könnteeventuell als Zeugin geladen sein, aber er ist nicht so gut informiert wie Magnus, der die gesamte deutsche Presse studiert hat. Svend verspricht ihm, einige russische Zeitungen zu besorgen und sich ein bisschen umzuhören, falls es noch Kameraden geben sollte, die bereit sind, sich mit ihm zu unterhalten. Er weiß, dass einige skandinavische Parteikameraden im Hotel Lux wohnen.
Das Hotel National, in dem sie selbst absteigen, ist ein stattliches Gebäude. Es geht auf den Roten Platz hinaus, wie Brodersen es ihm beschrieben hat, aber der etwas heruntergekommene klassizistische Bau hat seine besten Zeiten unverkennbar bereits hinter sich. An mehreren Stellen bröckelt die Farbe von der imposanten Fassade ab, und das Haus strahlt etwas Vergängliches aus, das Magnus melancholisch stimmt. Von hier aus kann er die Türme des Kreml sehen, die lange rote Mauer, dahinter die gelben Gebäude mit den grünen Dächern und die seltsamen zwiebelförmigen Kirchtürme des geheimen Machtzentrums.
Im Inneren ist es zum Glück warm.
Die Anmeldung an der Rezeption verläuft reibungslos. Svend kümmert sich um die Verständigung, und Magnus regelt das Finanzielle. Sie müssen ihre Pässe und die Visa abgeben, da diese bei der Polizei vorzulegen sind, aber man teilt ihnen mit, dass sie sie in spätestens zwei Tagen zurückbekommen. In der Zwischenzeit können die Herren ihre Zimmerkarten als Ausweisdokumente benutzen, falls die Ordnungshüter sie kontrollieren sollten.
Da Magnus in ausländischer Währung bezahlt, erhalten sie zwei schöne Zimmer mit Blick auf den Kreml. Warmes Wasser gibt es dort ebenfalls. Sie verabreden, ein Bad zu nehmen und sich in einer Stunde im Restaurant zum Mittagessen zu treffen.
Das Hotel ist etwas heruntergekommen, aber opulent, und über eine monumentale Treppe gelangt man in die erste Etage mit verschiedenen Restaurants und Bars. IhreZimmer in der sechsten Etage sind groß und mit schweren Möbeln und dicken roten Samtgardinen und jeder Menge vergoldeter Verzierungen ausgestattet. Aber es wirkt alles ein wenig ausgeblichen, so als fehlte es an Geld, um das Hotel richtig in Schuss zu halten. Es verfällt vor den Augen der Gäste und des Personals. Wie eine vornehme und wohlhabende Dame, die bessere Zeiten gekannt hat, aber immer noch alles tut, um die Fassade aufrechtzuerhalten, auch wenn es ihr von Tag zu Tag schwerer fällt.
Das gilt auch für das Restaurant, in dem man ihnen einen Tisch in der Ecke des kleineren Speisesaals zuweist, wo es dunkel und stickig ist und trotz der hohen Decken nach Kohl stinkt. In einer Ecke spielen einige Musiker in schwarzen Anzügen und mit versteinerten Mienen klassische Musik.
Svend spricht fließend Russisch, wie Magnus bemerkt, als dieser die Bestellung aufgibt. Er bestellt eine Rote-Bete-Suppe, die er Borschtsch nennt, Buchweizenpfannkuchen mit dem berühmten russischen Kaviar und Hühnchen, das eines der beiden warmen Gerichte ist, die das Restaurant an diesem Tag anzubieten hat, obwohl die Speisekarte endlos lang ist.
Magnus hört, dass an den umstehenden Tischen eine ganze Menge Journalisten sitzen, die sich über den bevorstehenden Prozess unterhalten. Sie kommentieren ihn sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch und Englisch. Redakteur Brodersen hat offensichtlich gewusst, wo die ausländische Presse abzusteigen pflegt.
Magnus’ Artikel aus Spanien hatten
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