Die Wahrheit über Alice
auf den Mund.
Mum legt eine Hand auf meinen Oberschenkel und streicht mir tröstend übers Bein. «Und wir haben ihnen natürlich auch von dem
Baby erzählt», sagt sie.
«Oh», sage ich und versuche, höflich zu sein, einen Hauch Interesse zu zeigen, aber ich will bloß, dass sie geht und mich
allein lässt. Ich möchte mich ungestört ausheulen. Seltsam, noch vor wenigen Tagen hatte ich solchen Wert auf die Meinung
anderer zu meiner Schwangerschaft gelegt. Jetzt erscheint mir das alles völlig unwichtig. Das Baby selbst ist eine Unmöglichkeit
geworden.
|304| «Zuerst war es natürlich ein ganz schöner Schock für sie. Aber ich glaube, dann haben sie sich doch gefreut. Es ist schließlich
Micks Baby. Das ist immerhin ein kleiner Trost», sagt sie. Ich nicke und warte darauf, dass sie endlich geht. Aber sie rührt
sich nicht, und ich spüre am Druck ihrer Hand, an der Art, wie sie seufzt, dass sie noch etwas sagen will. Ich drehe mich
um, blicke sie an und versuche ein Lächeln.
«Ich soll dir von ihnen sagen, wie dankbar sie dir sind», sagt sie. «Weil du versucht hast, ihm zu helfen, und dabei dein
Leben riskiert hast.»
Ich wende mich ab.
«Du hast alles getan, was du konntest.»
Aber es war nicht genug, denke ich, nicht mal annähernd.
Auf Micks Beerdigung begegne ich ihnen zum ersten Mal. Micks Vater sieht aus wie Philippa, seine Mutter hat unheimliche Ähnlichkeit
mit Mick, und sie zieht mich an sich und drückt mich fest. Und ich klammere mich an sie und atme sie ein, und schließlich
muss man mich mit sanfter Gewalt zwingen, sie loszulassen.
Die folgenden sechs Monate durchlebe ich wie ein Roboter. Ich mache alles, was richtig ist. Ich ernähre mich gut und verschaffe
mir viel Bewegung durch Spaziergänge in der näheren Umgebung, aber ich fühle mich wie losgelöst von allem und habe keinerlei
Interesse an dem Baby. Micks Eltern kommen ein paarmal zu Besuch, auch Philippa ist da, und nur wenn ich mit ihnen zusammen
bin, wenn ich eine gewisse Verbindung zu Mick spüre, fühle ich mich halbwegs wieder lebendig. Die übrige Zeit komme ich mir
vor wie eine Art Zombie. Eine wandelnde Tote.
Die Wehen setzen einen Tag vor dem errechneten Geburtstermin ein, und zunächst bin ich froh über den Schmerz. Er ist nur körperlich
und wesentlich leichter zu ertragen als emotionaler |305| Schmerz. Und je schlimmer er wird, desto mehr empfinde ich eine Art perverse Genugtuung.
Doch dann dauert der Schmerz zwei Tage und zwei Nächte an und wird schließlich so gewaltig und unerträglich, dass ich die
Götter anflehe, er möge aufhören, und die Hebammen lauthals um Hilfe anbettele, doch die nicken nur und lächeln und sagen,
ich soll die Beine anziehen, und schließlich presse ich und presse und presse das Universum zwischen meinen Beinen hervor,
und dann ist sie da. Sarah. Micks Tochter. Meine Kleine.
Und ich weiß nicht, ob es an der herrlichen Schmerzlosigkeit liegt, die sofort einsetzt, oder ob ich eine Art Hormonrausch
habe, aber ich empfinde eine tiefe und überwältigende Liebe und Dankbarkeit. Gegenüber meiner kleinen Tochter, gegenüber Mum
und Philippa, die mir geholfen haben, sie auf die Welt zu bringen, gegenüber den Hebammen, gegenüber der ganzen Welt. Ich
empfinde
wieder – zum ersten Mal seit Micks Tod. Und ich nehme meine Tochter, die noch ganz schleimig und nass von der Geburt ist,
und halte sie an meine Brust, und ich flüstere ein leises Gebet an Mick, ein feierliches Versprechen, sie immer zu beschützen
und zu lieben. Sie gut zu behüten.
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R obbie lächelt. Zunächst zögerlich und fast ängstlich, doch als ich ebenfalls lächle und nicke, strahlt er, schüttelt den
Kopf und lacht. Und im nächsten Augenblick steht er vor mir, seine Hände in meinen.
«Mein Gott, Katherine. Du bist es. Ich kann’s nicht fassen. Du bist es wirklich.»
Aus der Nähe wirkt er älter. Natürlich, es sind fünf Jahre vergangen, und es steht ihm gut. Sein Gesicht ist viel männlicher
geworden, auch kantiger und irgendwie markanter.
«Mummy, Mummy, wer ist der Mann?» Sarah zieht an meinem Bein und blickt neugierig zu Robbie hoch. Er geht in die Hocke, sodass
sein Gesicht auf gleicher Höhe mit ihrem ist.
«Hallo. Ich bin Robbie. Ich bin ein alter Freund von deiner Mummy.»
Sarah legt den Kopf schief und guckt Robbie mitfühlend an. «Aber du siehst gar nicht so alt aus. Du siehst gar nicht so aus
wie Nan und Pop.»
Robbie lacht, und
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