Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Goldman? Ich habe keine Familie mehr, ich habe nichts mehr. Warum reißen Sie alte Wunden auf? Verschwinden Sie jetzt! Und zwar sofort!«
Unbeeindruckt fuhr ich fort: »Was war in Alabama passiert, Mr Kellergan? Warum sind Sie nach Aurora gezogen? Und was ist hier 1975 vorgefallen? Antworten Sie! Antworten Sie in Gottes Namen! Das sind Sie Ihrer Tochter schuldig!«
Kellergan sprang wie ein Verrückter auf und stürzte sich auf mich. Er packte mich mit einer Kraft an der Kehle, die ich ihm nie zugetraut hätte. »Verschwinden Sie aus meinem Haus!«, schrie er und stieß mich nach hinten. Wahrscheinlich wäre ich gestürzt, wenn Gahalowood mich nicht aufgefangen und hinausgezerrt hätte.
»Sind Sie übergeschnappt, Schriftsteller?«, schnauzte er mich an, als wir zu seinem Wagen zurückgingen. »Oder sind Sie einfach nur total bescheuert? Wollen Sie alle unsere Zeugen gegen sich aufbringen?«
»Sie müssen zugeben, dass da etwas nicht stimmt …«
»Was stimmt da nicht? Wir haben seine Tochter als Schlampe hingestellt, und er wird wütend: Das ist ziemlich normal, oder nicht? Fast hätte er Ihnen eine gescheuert. Ganz schön rüstig, der Alte. So sieht er gar nicht aus.«
»Tut mir leid, Sergeant. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«
»Und was sollte diese Geschichte mit Alabama?«, wollte er wissen.
»Ich hatte Ihnen schon davon erzählt: Ich bin fest davon überzeugt, dass es einen triftigen Grund dafür gab, warum die Kellergans aus Alabama weg- und hierhergezogen sind.«
»Ich werde mich erkundigen – wenn Sie mir versprechen, dass Sie sich in Zukunft vernünftig benehmen.«
»Wir schaffen es, oder, Sergeant? Ich meine, Harry ist doch quasi entlastet, oder?«
Gahalowood starrte mich an. »Wenn mich einer wirklich fertig macht, dann Sie, Schriftsteller. Ich mache hier meinen Job. Ich ermittle in zwei Mordfällen. Aber Sie, Sie sind offenbar vor allem vom Wunsch besessen, Quebert vom Vorwurf des Mordes an Nola zu entlasten, als wollten Sie dem Rest des Landes sagen: Ihr seht doch, dass er unschuldig ist! Was kann man diesem braven Schriftsteller denn vorwerfen? Unter anderem wirft man ihm vor, Goldman, dass er sich in ein fünfzehnjähriges Mädchen vergafft hat!«
»Das weiß ich! Ich muss ständig daran denken, stellen Sie sich vor!«
»Aber warum reden Sie dann nie darüber?«
»Ich bin sofort nach dem Skandal hierhergekommen, ohne nachzudenken. Dabei ging es mir vor allem um meinen Freund, um meinen alten Kameraden Harry. Unter normalen Umständen wäre ich höchstens zwei, drei Tage geblieben, um mein Gewissen zu beruhigen, und dann ruck, zuck nach New York zurückgefahren.«
»Und warum sind Sie noch hier und gehen mir auf die Nerven?«
»Weil Harry Quebert mein einziger Freund ist. Ich bin jetzt dreißig Jahre alt und habe nur ihn. Er hat mir alles beigebracht und war in den vergangenen zehn Jahren mein einziger Bruder im Geiste. Außer ihm habe ich niemanden.«
Ich glaube, jetzt tat ich Gahalowood leid, denn er lud mich zum Abendessen zu sich nach Hause ein. »Kommen Sie heute Abend zu uns, Schriftsteller. Wir ziehen in unseren Ermittlungen Bilanz und essen eine Kleinigkeit. Bei der Gelegenheit lernen Sie auch meine Frau kennen«, sagte er, doch sofort schlug er wieder seinen strengsten Ton an, als wurmte es ihn, zu nett gewesen zu sein, und schickte hinterher: »Ich meine, vor allem meine Frau wird sich freuen. Sie liegt mir schon die ganze Zeit damit in den Ohren, dass ich Sie mal zu uns einladen soll. Sie träumt davon, Sie kennenzulernen. Komischer Traum.«
Die Familie Gahalowood bewohnte ein hübsches kleines Haus im Osten von Concord. Helen, die Frau des Sergeants, war eine elegante, äußerst angenehme Person, also das genaue Gegenteil ihres Mannes. Sie empfing mich sehr freundlich. »Ihr Buch hat mir so gut gefallen«, sagte sie zu mir. »Sie ermitteln also wirklich zusammen mit Perry?« Ihr Mann brummte, dass nicht ich ermittelte, sondern er, der Chef, und ich sei bloß vom Himmel gefallen, um ihm das Leben schwer zu machen. Seine beiden heranwachsenden Töchter, die sehr entspannt wirkten, begrüßten mich höflich und verdrückten sich dann in ihr Zimmer.
Ich sagte zu Gahalowood: »Wie es aussieht, sind Sie der Einzige hier im Haus, der mich nicht mag.«
Er grinste. »Halten Sie die Klappe, Schriftsteller. Kommen Sie lieber mit nach draußen, und trinken Sie ein kühles Bierchen mit mir. Das Wetter ist so schön.«
Wir machten es uns auf der Terrasse in zwei
Weitere Kostenlose Bücher