Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
obwohl Sie wussten, dass es Personen gab, die Sie hätten verhören müssen, haben Sie es nicht getan! Warum, in Gottes Namen? Was hatten Sie sich selbst vorzuwerfen?«
Langes Schweigen. Ich sah Gahalowood an: Er war wirklich beeindruckend. Er fixierte Pratt mit einer Ruhe, wie sie einem gewaltigen Gewitter vorausgeht.
»Was hatten Sie sich vorzuwerfen?«, fragte er noch einmal. »Reden Sie! Reden Sie, um Himmels willen! Was war mit diesem Mädchen?«
Pratt wich unseren Blicken aus. Er stand auf und wandte uns den Rücken zu. Einen Moment lang sah er durchs Fenster seiner Frau zu, wie sie Gardenien von welken Blättern befreite.
»Es war Anfang August«, begann er mit kaum hörbarer Stimme. »Es war in den ersten Augusttagen dieses verfluchten Jahres 1975. Eines Nachmittags ist die Kleine – ob Sie es glauben oder nicht – in meinem Büro auf dem Revier aufgekreuzt. Es hat an die Tür geklopft, und Nola Kellergan ist eingetreten, ohne eine Antwort abzuwarten. Ich saß gerade am Schreibtisch und las in einer Akte. Ich war überrascht. Ich habe sie gegrüßt und gefragt, was los ist. Sie sah irgendwie seltsam aus und hat kein Wort gesagt. Sie hat die Tür zugemacht, den Schlüssel im Schloss umgedreht, mich angestarrt und ist auf den Schreibtisch zugekommen. Und dann …«
Pratt brach ab. Er war sichtlich aufgewühlt und brachte kein Wort mehr heraus. Gahalowood zeigte nicht das geringste Mitgefühl. Trocken fragte er: »Und was dann, Chief Pratt?«
»Ob Sie es glauben oder nicht, Sergeant: Sie ist unter den Schreibtisch gekrochen … Und dann … Dann hat sie meine Hose aufgemacht, meinen Penis herausgeholt und in den Mund genommen.«
Ich sprang auf. »Was soll das?«
»Es ist die Wahrheit! Sie hat mir einen geblasen, und ich habe sie gelassen. Sie hat gesagt: ›Entspannen Sie sich, Chief.‹ Und als alles vorbei war, hat sie sich den Mund abgewischt und gesagt: ›Jetzt sind Sie ein Verbrecher.‹«
Wir waren sprachlos. Deshalb also hatte Pratt weder Stern noch Harry verhört: weil er genau wie sie in die Sache verstrickt war.
Jetzt, wo er damit begonnen hatte, sein Gewissen zu erleichtern, hatte Pratt das Bedürfnis, sich alles von der Seele zu reden. Er gab an, dass es später noch zu einer zweiten Fellatio gekommen sei. Aber während die Initiative bei der ersten von Nola ausgegangen sei, habe er sie beim nächsten Mal dazu genötigt. Er erzählte uns, dass Nola ihm begegnet war, als er allein auf Streife war. Sie ging in der Nähe von Goose Cove vom Strand nach Hause und schleppte eine Schreibmaschine mit. Er hatte ihr angeboten, sie heimzufahren, doch anstatt den Weg nach Aurora einzuschlagen, war er zum Wald bei Side Creek gefahren.
»Ein paar Wochen bevor sie verschwunden ist, war ich mit ihr in Side Creek. Ich habe am Waldrand geparkt, dorthin kam kein Mensch. Ich habe ihre Hand genommen, sie auf mein steifes Glied gelegt und sie gebeten, es mir noch mal zu machen. Ich habe die Hose geöffnet, die Hand in ihren Nacken gelegt und sie aufgefordert, mir einen zu blasen … Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Das verfolgt mich seit dreißig Jahren! Ich ertrage es nicht mehr! Nehmen Sie mich mit, Sergeant. Ich will verhört und verurteilt werden, ich will, dass mir vergeben wird. Verzeih mir, Nola! Verzeih mir!«
Als Amy Pratt ihren Mann in Handschellen aus dem Haus kommen sah, erhob sie ein Geschrei, das die ganze Nachbarschaft alarmierte. Neugierig kamen die Leute aus ihren Häusern und liefen in die Vorgärten, um zu sehen, was los war, und ich hörte, wie eine Frau ihren Mann rief, damit er das Spektakel nicht verpasste: »Die Polizei führt Gareth Pratt ab!«
Gahalowood verfrachtete Pratt in seinen Wagen und fuhr mit Sirenengeheul zum Hauptquartier der State Police in Concord. Ich stand auf dem Rasen der Pratts. Amy kniete heulend in ihren Gardenien, und die Nachbarn, die Nachbarn der Nachbarn und die ganze Straße, ja das ganze Viertel und bald auch die halbe Stadt versammelten sich vor dem Haus im Mountain Drive.
Noch ganz benommen von dem, was ich soeben erfahren hatte, setzte ich mich auf einen Hydranten und rief Roth an, um ihn ins Bild zu setzen. Ich hatte nicht den Mut, es Harry selbst zu sagen: Ich wollte nicht derjenige sein, der ihm diese Nachricht überbrachte. Das übernahm in den darauffolgenden Stunden das Fernsehen. Sämtliche Nachrichtensender griffen die Meldung auf, und die nächste große Medienhatz begann: Gareth Pratt, der ehemalige Polizeichef von Aurora, hatte
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