Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
hatte. »Die habe ich Ihnen mitgebracht. Ich bin in Goose Cove vorbeigefahren. In Ihrem Haus sind noch jede Menge Sachen von Ihnen … Warum holen Sie sie nicht?«
»Was sollte ich Ihrer Meinung nach denn holen?«
»Erinnerungsstücke?«
Er verzog das Gesicht. »Erinnerungsstücke machen einen nur traurig, Marcus. Wenn ich diese Dose nur sehe, könnte ich heulen!«
Er nahm sie in die Hand und drückte sie an sich. »Als Nola verschwunden ist, habe ich mich nicht an der Suche beteiligt«, erzählte er. »Wissen Sie, was ich stattdessen getan habe?«
»Nein.«
»Ich habe auf sie gewartet, Marcus. Sie zu suchen hätte bedeutet, dass sie nicht mehr da war. Also habe ich gewartet, weil ich überzeugt war, dass sie zu mir zurückkehren würde. Ich war mir sicher, dass sie eines Tages wiederkommen würde, und ich wollte, dass sie an diesem Tag stolz auf mich wäre. Ich habe mich dreiunddreißig Jahre lang auf ihre Rückkehr vorbereitet. Dreiunddreißig Jahre! Ich habe jeden Tag Schokolade und Blumen für sie gekauft. Ich wusste, dass sie der einzige Mensch war, den ich je lieben würde, denn der Liebe begegnet man nur ein einziges Mal im Leben, Marcus! Wenn Sie mir nicht glauben, heißt das, dass Sie noch nie geliebt haben. Ich habe abends auf meinem Sofa gesessen und auf sie gewartet, ich habe mir gesagt, dass sie bestimmt irgendwann einfach auftauchen würde, wie sie immer überraschend aufgetaucht war. Wenn ich durchs Land gereist bin und Vorträge gehalten habe, habe ich einen Zettel an die Haustür geklebt: Halte einen Vortrag in Seattle, bin nächsten Dienstag wieder da. Es konnte ja sein, dass sie in der Zwischenzeit zurückkam. Und die Tür habe ich immer offen gelassen. Immer! Ich habe dreiunddreißig Jahre lang nicht abgeschlossen. Die Leute haben mich für verrückt gehalten und gesagt, eines Tages würde ich heimkommen und feststellen, dass Einbrecher mein Haus ausgeräumt hätten, aber in Aurora wird nicht eingebrochen. Wissen Sie, warum ich jahrelang unterwegs war und alle Vortragsreisen angenommen habe, die man mir angeboten hat? Weil ich dachte, ich würde sie so vielleicht wiederfinden. Ich habe sie im ganzen Land gesucht, in den großen Metropolen wie in den kleinsten Nestern, und ich habe dafür gesorgt, dass mein Kommen in den lokalen Tageszeitungen angekündigt wurde. Manchmal habe ich die Werbeanzeigen aus eigener Tasche bezahlt, und warum das alles? Für sie, damit wir uns wiederfinden konnten. Bei jedem Vortrag habe ich das Publikum nach blonden jungen Frauen in ihrem Alter und nach Mädchen abgesucht, die ihr ähnlich sahen. Jedes Mal habe ich mir gesagt: Vielleicht ist sie da. Und nach dem Vortrag habe ich alle lästigen Fragen beantwortet in der Hoffnung, dass sie vielleicht auf mich zukäme. Ich habe jahrelang im Publikum nach ihr Ausschau gehalten und zuerst die Fünfzehnjährigen, dann die Sechzehn-, die Zwanzig- und schließlich die Fünfundzwanzigjährigen ins Visier genommen! Ich bin in Aurora geblieben, Marcus, weil ich auf Nola gewartet habe. Und jetzt hat man sie vor anderthalb Monaten gefunden, tot und in meinem Garten vergraben! Ich habe die ganze Zeit auf sie gewartet, dabei war sie da, direkt nebenan! Dort, wo ich für sie schon immer Hortensien pflanzen wollte! Seit dem Tag, an dem man sie gefunden hat, ist mir, als müsse mein Herz zerspringen, Marcus. Weil ich die Liebe meines Lebens verloren habe! Weil sie vielleicht noch am Leben wäre, wenn ich mich nicht mit ihr in diesem verfluchten Motel verabredet hätte! Also kommen Sie mir nicht mit Erinnerungen, die mir nur das Herz zerreißen. Hören Sie auf damit, ich flehe Sie an.«
Er steuerte auf die Treppe zu.
»Wohin gehen Sie, Harry?«
»Boxen. Das Boxen ist alles, was mir geblieben ist.« Er ging hinunter auf den Parkplatz und führte unter den beunruhigten Blicken der Gäste im angrenzenden Restaurant ein martialisches Getänzel auf. Ich folgte ihm. Er stellte sich mir gegenüber auf und nahm Deckungsposition ein. Dann versuchte er eine Serie von Geraden, aber auch beim Boxen war er nicht mehr derselbe.
»Warum sind Sie eigentlich hergekommen?«, fragte er mich zwischen zwei Rechten.
»Warum? Natürlich, weil ich Sie sehen wollte …«
»Und warum wollten Sie mich unbedingt sehen?«
»Weil wir Freunde sind!«
»Genau das ist es, was Sie nicht verstehen, Marcus: Wir können keine Freunde mehr sein.«
»Was reden Sie da, Harry?«
»Es ist die Wahrheit. Ich liebe Sie wie einen Sohn und werde Sie immer lieben. Aber
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