Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
Vom Netzwerk:
dem Gong der ersten Runde und dem Schlussgong zurücklegen. Das Kampfergebnis ist im Grunde nur eine Information für das Publikum. Wer will sich anmaßen zu behaupten, Sie hätten verloren, wenn Sie das Gefühl haben, Sie hätten gewonnen? Das Leben ist ein Wettkampf, Marcus: Es wird immer Menschen geben, die schneller oder langsamer als Sie sind. Unterm Strich zählt nur die Kraft, die Sie aufgebracht haben, um Ihren Weg zu machen.«
    »Harry, ich habe in einem Boxraum dieses Plakat gesehen …«
    »Das von der Boxmeisterschaft der Hochschulen?«
    »Ja … Alle großen Hochschulen nehmen teil: Harvard, Yale … Ich … Ich würde gern mitmachen.«
    »Dann werde ich Ihnen dabei helfen.«
    »Wirklich?«
    »Aber sicher. Sie können immer auf mich zählen, Marcus, vergessen Sie das nie. Sie und ich, wir sind ein Team. Fürs ganze Leben.«

10.
    Auf der Suche nach einem
fünfzehnjährigen Mädchen
    Aurora, New Hampshire, 1.–18. September 1975
    »Harry, wie soll man Emotionen vermitteln, die man nie durchlebt hat?«
    »Genau darin besteht Ihre Arbeit als Schriftsteller. Schreiben heißt, empfindsamer zu sein als andere und den Menschen diese Gefühle dann weiterzuvermitteln. Schreiben heißt, den Lesern etwas vor Augen zu führen, was sie sonst vielleicht nicht sehen könnten. Wenn nur Waisenkinder Geschichten über Waisenkinder erzählen würden, würde uns das nicht weiterbringen. Das hieße nämlich, dass Sie weder über eine Mutter noch über einen Vater, einen Hund, einen Piloten oder die Russische Revolution schreiben könnten, weil Sie keine Mutter, kein Vater, kein Hund und auch kein Pilot sind und die Russische Revolution nicht miterlebt haben. Sie sind einfach nur Marcus Goldman, und wenn jeder Schriftsteller sich auf sich selbst beschränken müsste, wäre es um die Literatur sehr ärmlich bestellt, und sie würde jeden Sinn verlieren. Wir haben das Recht, über alles zu sprechen; Marcus, über alles, was uns nahegeht, und niemand kann uns dafür verurteilen. Wir sind Schriftsteller, weil wir uns auf eine Sache besser verstehen als die Menschen um uns herum, und das ist das Schreiben. Das ist das ganze Geheimnis.«

Früher oder später bildeten sich alle ein, Nola irgendwo zu sehen: im Einkaufsladen der Nachbarstadt, an einer Bushaltestelle, am Tresen eines Restaurants. In der Woche nach Nolas Verschwinden – die Suche wurde unterdessen fortgesetzt – musste sich die Polizei mit einer Menge irriger Zeugenaussagen herumschlagen. So wurde im Bezirk Cordridge eine Kinovorführung unterbrochen, weil ein Besucher Nola Kellergan in der dritten Reihe zu erkennen glaubte, und in der Gegend von Manchester wurde ein Familienvater, der seine blonde, fünfzehnjährige Tochter auf den Jahrmarkt begleitete, zur Überprüfung seiner Personalien aufs Revier mitgenommen.
    Die Suchmaßnahmen blieben trotz ihrer Intensität ergebnislos. Dank des Einsatzes der örtlichen Bevölkerung hatten sie auf sämtliche Nachbarstädte Auroras ausgeweitet werden können, doch man hatte nicht den Hauch einer Spur entdeckt. Spezialisten des FBI waren angereist, um die Polizeiarbeit zu optimieren und, sich auf Erfahrungswerte und Statistiken stützend, die Orte vorzugeben, an denen vorrangig gesucht werden sollte: Wasserläufe, Waldränder in der Nähe von Parkplätzen sowie Müllkippen, auf denen ekelerregende Abfälle vor sich hinfaulten. Die Sache erschien ihnen so komplex, dass sie sogar ein Medium bemüht hatten, das sich in Oregon in zwei Mordfällen bewährt hatte, hier aber nicht weiterhelfen konnte.
    In dem von Schaulustigen und Journalisten belagerten Städtchen Aurora ging es hoch her. Auf dem Polizeirevier in der Hauptstraße herrschte hektische Betriebsamkeit, denn dort wurden die Suchmaßnahmen koordiniert, Informationen gesammelt und ausgewertet. Die Telefonleitungen waren überlastet, die Apparate klingelten unablässig, oft wegen nichts und wieder nichts, aber jeder Anruf musste gründlich überprüft werden. In Vermont und Massachusetts war man Hinweisen nachgegangen und hatte Hundestaffeln losgeschickt, jedoch ohne Erfolg. Die kurzen Pressetermine, die Chief Pratt und Captain Rodik zweimal täglich vor dem Eingang des Polizeireviers abhielten, wurden zusehends zu einem Eingeständnis ihrer Ohnmacht.
    Unmerklich hatte sich ein Netz engmaschiger Überwachung über Aurora gelegt. FBI -Agenten hatten sich unter die Journalisten geschmuggelt, die aus dem ganzen Staat angereist waren, um über die Geschehnisse zu berichten.

Weitere Kostenlose Bücher